Vincent will Meer (2010)

Ein Roadmovie unter erschwerten Umständen

Eine Filmkritik von Claire Horst

Eine Gruppe von Außenseitern will weg. Zunächst klingt das nicht besonders innovativ, kennt man diese Handlung doch aus Filmen wie Knocking on Heaven’s Door und Verrückt nach Paris. Mit dem letzteren Film hat Vincent will Meer sogar noch mehr gemeinsam: Hier wie dort sind es drei Bewohner und Bewohnerinnen einer therapeutischen Einrichtung, die es in die Ferne zieht.

Der 27jährige Vincent (Florian David Fitz, der auch das Drehbuch geschrieben hat) leidet am Tourette-Syndrom, und seine geliebte Mutter ist gerade gestorben. Sein Vater, ein viel beschäftigter Politiker (Heino Ferch) weiß mit seinem "behinderten" Sohn nicht viel anzufangen und organisiert ihm deshalb einen Platz in einem Heim. Vincents erster Eindruck von seinem neuen Zuhause ist katastrophal: Sein Zimmergenosse Alexander (Johannes Allmayer) ist ein Zwangsneurotiker, der ihm als erstes verbietet, die Toilette zu benutzen. Anfassen soll er möglichst gar nichts. Besser versteht Vincent sich da schon mit Marie (Karoline Herfurth), die wegen ihrer Magersucht hier ist. Marie ist es auch, die nach einem Streit mit der Therapeutin Dr. Rose (Katharina Müller-Elmau) deren Autoschlüssel klaut. Wenig später befinden sich die drei auf der Fahrt nach Italien, wo Vincent die Asche seiner Mutter ins Meer streuen will. Dabei wollte Alexander die anderen eigentlich nur aufhalten…

Was in jeder Einstellung nach hinten losgehen könnte – Tourette eignet sich mit seinen slapstickartigen Ausbrüchen wunderbar zur diskriminierenden Darstellung von "Behinderten" – funktioniert in diesem Film wunderbar. Denn Regie und Drehbuch gehen mit ihren Figuren sehr respektvoll um. Vincent, Marie und Alexander sind allesamt Sympathieträger, obwohl man jeden einzelnen von ihnen in Wirklichkeit vielleicht nur schwer ertragen würde. Vincent, der sich in Marie verliebt hat, wird geplagt von einem "Clown, der in seinem Gehirn sitzt und zwischen seine Synapsen kackt". Gegen seine Krämpfe, Zuckungen und das ständige Ausstoßen von Schimpfwörtern, die so genannte Koprolalie, kann er sich nicht wehren. Marie weigert sich während der tagelangen Fahrt durch die italienischen Alpen, auch nur eine Gurkenscheibe zu essen. Alexander kämpft mit jedem Krümel und bringt die anderen mit dem ständigen Einsatz von unzähligen Sprays zur Verzweiflung. Besonders Johannes Allmayer überzeugt: Sein Alexander ist ein in sich selbst gefangener, verklemmter Spießer und zugleich ein liebeshungriger und liebenswerter Mensch. Eine der schönsten Szenen des Films zeigt ihn als Dirigenten eines Sonnenuntergangs – großartig!

Während die drei ihrem Ziel immer näher kommen und sich auch von Vincents gesperrter Kontokarte nicht aufhalten lassen, folgen ihnen Vincents Vater und Frau Dr. Rose. Den anfangs extrem unsympathischen Vater interessiert vor allem die Standpauke, die er seinem missratenen Sohn halten will – der versaut ihm gerade den Wahlkampf -, die Therapeutin dagegen fürchtet um die Gesundheit ihrer Patientin Marie, die sie eigentlich schon zur Zwangsernährung einweisen wollte. Wie die drei Heimbewohner sind auch Dr. Rose und Vincents Vater in ihren eigenen Vorstellungen gefangen, in einer Idee von der eigenen Persönlichkeit, von der sie sich nun lösen müssen.

Dass Vincents Vater keine Spur von Verständnis für seinen Sohn aufbringen will, nimmt Frau Rose genauso gegen ihn ein wie die Tatsache, dass er ständig telefoniert und am Wohlergehen der Patienten nicht interessiert ist. Dass der Politiker seine Arroganz gegenüber "den einfachen Menschen aus dem Volk" auch an italienischen Verkehrspolizisten auslebt, bringt die beiden schließlich ins Gefängnis. Gelungen an diesem Teil der Handlung wie im gesamten Film ist der beständige Wechsel zwischen komischen und ernsten Szenen. "Mein Ziel war immer, auf Messers Schneide zu bleiben, also einen Ton zwischen Poesie und böser Realität, und zwischen fiesem, derbem Humor aber dann auch wieder eine Zartheit zu finden", erläutert Drehbuchautor und Hauptdarsteller Fitz.

Während Vater und Therapeutin noch darum kämpfen, die Jagd wieder aufnehmen zu können, haben die drei Gesuchten mit ganz anderen Problemen zu kämpfen, die nichts mit ihrer speziellen Situation zu tun haben. Zwischen Vincent und Marie beginnt eine Liebesgeschichte, die in ihrer Zartheit und Vorsicht rührt, die aber auch dazu führt, dass Alexander sich ausgeschlossen fühlt. Eine ganz normale Eifersuchtsgeschichte? Nicht unbedingt, denn die drei Egozentriker entwickeln ein neues Verantwortungsgefühl füreinander, das jeden einzelnen von ihnen immer sympathischer werden lässt.

Vincent, der sich bisher nur als ausgegrenzten Einzelgänger kannte und völlig auf seine Mutter fixiert war, erlebt zum ersten Mal, dass man sein Leben auch selbstbestimmt gestalten kann. Zwischen ihm und dem eigentlich so anstrengenden Alexander entsteht eine eigentümliche Freundschaft. Ihr Glück und zugleich ihre Unsicherheit spielen die Darsteller sehr anrührend.

Als sie beiden Gruppen schließlich aufeinander treffen, kommt es noch lange nicht zum großen Showdown, denn die Flüchtenden wissen sich zu helfen und fahren mit der Luxuskarosse des Vaters weiter – was vor allem Alexanders Herz höher schlagen lässt.

Am Ende der Reise hat sich für alle Beteiligten etwas Entscheidendes geändert. "Mir ging es noch nie so gut", kann Alexander seiner Therapeutin mitteilen. Zwischen Vincent und seinem Vater kommt es zum ersten Mal zu einem Gespräch, das Anzeichen von Verständnis hat. Für Vincent bedeutet das Treffen mit Alexander und Marie viel mehr als zwei neue Freundschaften: Er hat die Erkenntnis gewonnen, dass man zunächst sich selbst akzeptieren muss, bevor das Leben weitergehen kann. Und dass man niemanden heilen kann – außer sich selbst. Damit umgeht der Film auch die gefährliche Klippe des besänftigenden Happy Ends. Nichts ist gut, und doch ist alles besser als noch vor wenigen Tagen. Die Reise geht für Vincent und seine Freunde jetzt erst los.

Regisseur Ralf Huettner ist an humorvolle Projekte gewöhnt: Bekannt wurde er mit Helge Schneiders Texas – Doc Snyder hält die Welt in Atem. Anders als bei Texas steht allerdings in Vincent will Meer die einfühlsame Porträtierung seiner Figuren im Mittelpunkt. Vielleicht deshalb beschränkt der Film sich durchgehend auf nur fünf Protagonisten. Die Intensität, mit der die Darsteller ihre Rollen ausfüllen, stellt viele größere Ensembles in den Schatten.

Die Schwierigkeit bestand für Huettner darin, dass "man die Krankheit ernst nimmt, aber trotzdem die Komödie nicht vergisst: Dass man mit so schwierigen Figuren auch leicht umgehen kann." Das ist ihm – auch dank der wunderbaren Schauspieler - gelungen.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/vincent-will-meer-2010