Der Kinoleinwandgeher

Kopfgeburten, Höllenbilder und Winnetous Tod

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Der österreichische Schriftsteller Josef Winkler dürfte spätestens seit der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2008 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung auch einem breiten Publikum bekannt sein. Michael Pfeifenberger widmet sich gemeinsam mit dem sprachgewaltigen Autor einer dokumentarischen Bestandsaufnahme, die das Kopfkino Winklers kongenial in Bilder umsetzt und so den Zugang zu einem der aufregendsten Autoren unserer Tage ermöglicht. Wer allerdings einen dokumentarisch-distanzierten Blick auf das Leben und Werk Winklers erwartet, sieht sich spätestens nach wenigen Minuten im falschen Film. Leben und Schreiben, Tod, Homosexualität und Erinnerungen an die Enge und Muffigkeit der eigenen Kindheit vermischen sich in Der Kinoleinwandgeher wie in den Büchern des Schriftstellers zu einem wort- und bildgewaltigen Bewusstseinsstrom, der ebenso opulent wie drastisch ein Feuerwerk der Assoziationen, Reibungspunkte, Ähnlichkeiten und schrillen Dissonanzen auf die Leinwand und mitten ins Zentralnervensystem des Zusehers einbrennt.
Mit und in Der Kinoleinwandgeher haben sich offensichtlich zwei verwandte Seelen getroffen. Was gewiss auch daran liegen mag, dass der Regisseur Michael Pfeifenberger und der Schriftsteller Josef Winkler in einer ähnlichen archaisch-bäuerlichen Umgebung großgeworden sind, der eine im salzburgischen Lungau, der andere 80 Kilometer weiter südlich in Kamering in Kärnten. Gemeinsam haben sie das Drehkonzeopt erarbeitet, das bewusst offen gestaltet wurde, um Platz zu lassen für Unvorhergesehenes und zufällig am Wegesrand Gefundenes. Von solchen Fundstücken gibt es zahlreiche in diesem Film zu entdecken. Dennoch hat man nie das Gefühl, dass der Film sich verzetteln oder zerfasern würde - im Gegenteil. Zusammengehalten von der beeindruckenden und niederdrückenden Prosa des Autors entwickelt der Film einen ganz eigenen Sog, dem man sich - welch Seltenheit bei essayistischen Filmen, die sich mit Literatur auseinandersetzen - bald schon nicht mehr entziehen kann.

Zwischen dem heimatlichen Kärnten und den beiden anderen geografischen Polen Indien und Mexiko entspannt sich auf diese Weise ein drastisches Kinokunststück, das den ganz eigenen Tonfall Winklers und die ständig wiederkehrenden Themen Tod und Sexualität, Katholizismus und die spießige Enge des Provinziellen mit Bildern von verstörender und zugleich erlesener Grausamkeit illustriert und aufeinanderprallen lässt. Musikalisch begleitet von Tigres del Norte, der österreichischen Band Naked Lunch, einem zu Herzen gehenden Lied von Martha Toledo und diversen anderen Interpreten, die der inneren Logik des Filmes folgend häufig eben nicht da eingesetzt werden, wo sie eigentlich durch ihre Herkunft eingebaut werden müssten, fließen so Bilder und Töne unterschiedlichster kultureller Herkunft ganz selbstverständlich zusammen. Den weitaus größten Teil beanspruchen freilich die Texte Winklers für sich, die aus verschiedenen Werken stammend, ebenso frei zusammenmontiert wurden, wie dies für den gesamten Film gilt. Nur an einer Stelle hört man die Stimme des Autors selbst, ansonsten ist es der sonore Bass von Peter Patzak, der die Winkler-Passagen mit großer Eindringlichkeit rezitiert und so einen guten Einblick in den typischen literarischen Stil des Büchner-Preisträgers gibt. Vom Urerlebnis des Kinos (die finale Sterbeszene aus Winnetou III) und dem Trauma des Freitodes zweier homosexueller Burschen im Kärnten seiner Kindheit spannt sich der Bogen über Erinnerungen an die Eltern und Reflektionen über die eigene Vergänglichkeit und Todessehnsucht ("Ich bin deprimiert, weil ich seit einiger Zeit keine Selbstmordgedanken mehr habe") bis hin zu einer wütenden Abrechnung mit der katholischen Kirche, wie sie in dieser Heftigkeit in den letzten Jahren vor allem immer wieder aus Österreich kommt. Dennoch ist Der Kinoleinwandgeher kein Werk, das vor allem provozieren will, sondern eines, das in zahlreichen Momenten gleichsam über den Gesetzen der Literatur und des Films zu schweben scheint und in dem sich die beiden Bereiche auf das Vortrefflichste durchdringen und gegenseitig beflügeln. Angesichts so viel anarchischen Freisinns blendet man die mitunter etwas (möglicherweise bewusst) hölzernen Spielszenen nur allzu gerne aus und verliert sich stattdessen in Worten, Sätzen und Bildern, die man selten so kühn und dreist, so verführerisch und grausam aneinandergereiht, montiert und auf Kollisionskurs gebracht sah wie hier.

Bislang war Der Kinoleinwandgeher lediglich in ausgewählten österreichischen Kinos und auf einigen Festivals sowie auf dem European Film Market der diesjährigen Berlinale zu sehen. Ob es eine Kinoauswertung in Deutschland geben wird, steht im Moment noch nicht fest. Aber hoffen darf man schon...

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-kinoleinwandgeher