Tuesday, After Christmas

Der diskrete Schmerz der Bourgeoisie

Eine Filmkritik von Lida Bach

Acht Minuten haben Paul und Raluca miteinander. Auf dem vom Sonnenlicht und ihren Körpern erwärmten Bett scheint es für den alternden Banker (Mimi Brănescu) und die Zahnarzthelferin (Maria Popistaşu) niemand anderen in der Welt zu geben. Aber es gibt andere. Bevor die acht Minuten vorüber sind, dringen sie in die Zweisamkeit durch ein Wort Ralucas: "Adriana". Zu lange schon hat der Familienvater die Entscheidung zwischen beiden aufgeschoben, die er nun nach den Feiertagen umsetzen will. Es wird ein bitteres Weihnachten für ihn und seine Ehefrau (Mirela Oprişor), die sich der Langzeitaffäre so wenig bewusst ist wie es das Figurenensemble seiner diskreten Beobachter scheint: den Kinozuschauern.
Tuesday, After Christmas beobachtet seine Figuren in der ungeschnittenen Eingangsszene in denkbar intimen Situationen bei noch intimeren Gesprächen. Dennoch ist Radu Munteans ungeschönter Blick nicht voyeuristisch, sondern von analytischer Ökonomie. Der rumänische Regisseur und Autor entblößt seine Figuren ohne sie preiszugeben. Stets bleibt die Integrität der Charaktere gewahrt, die in Worten und Gesten zueinander sprechen und doch an der eigenen Kommunikationsunfähigkeit scheitern. Mit der Unmittelbarkeit ihrer naturalistischen Plansequenzen und dem aus innerfilmischen Klängen entstehendem Soundtrack wandelt das konzentrierte Personenspiel auf der Grenzen von Cinema verité und Stilübung. Aus dem gehobenen Mittelklasse-Schick von Pauls familiärem Heim spricht die erstickende Konventionalität der Bourgeoisie, der Paul in die Affäre entflieht. Der inszenatorische Minimalismus, der dem knappen Dutzend Szenen das zugleich organische und statische Air eines Bühnenstücks verleiht, wird zum Synonym für Pauls seelische Apathie.

Seine Entscheidungsfurcht beruht nicht auf emotionaler Zerrissenheit, sondern gesellschaftlicher Unentschlossenheit. Seine jüngere und attraktivere Geliebte verkörpert für den Fett und Familienüberdruss ansetzenden Büroangestellten die letzte Chance, dem bürgerlichen Käfig zu entkommen. Die zurückweisende Adriana wiederum repräsentiert gewohnheitsmäßige Vertrautheit und soziale Etablierung, die aufzugeben Paul zurückscheut. Sein Schwanken bezeugt die elementare Verlustangst, die den Protagonisten in die aufgeräumte Konventionalität von Apartments, Büroräumen und Geschäftsvierteln nachsteigt. Äußerlich in den Privatkosmos der Protagonisten versunken, evoziert der rumänische Neo-Realismus eine politischen Subtext in der Verunsicherung der Protagonisten, ihrem Festhalten an eingeübten Verhaltensmustern und der doppelbödigen Maskerade, die als sarkastisches Finale den letzten Akt krönt.

Pauls Gefühle sind echt, doch zu oberflächlich, um einen konkreten Entschluss zu motivieren. Nicht die Intensität, sondern die Banalität seines psychischen Verlangens zermürbt ihn. Einen Mann mit mehr Willenskraft solle er ihr bringen, werde sie dem Weihnachtsmann schreiben, sagt Raluca einmal. Vielleicht liest der Weihnachtsmann keine Briefe von Erwachsenen oder verrichtet sein Werk so ökonomisch und forsch wie Muntean die diffizile Beziehungsmaschinerie, die er vor den Augen des Publikums auseinandergenommen hat, implodieren lässt. Es gibt keinen anderen Mann, nur eine schmerzliche Trennung und Paul mit seiner Passivität: wen sie liebt, das kann Raluca nicht entscheiden so wie Paul nicht entschieden hat, sich in eine andere als Adriana zu verlieben. Weder rechtfertigt Muntean seinen Hauptcharakter noch verurteilt er ihn, sondern er zeigt ihn als Gefangenen eines psychosozialen Gefängnisses aus materieller Sicherheit, Status und durch medial sublimierte Vorstellungen von Männlichkeit, Erfolg und intakter Familie. Vor Beginn der auf wenige Tage kondensierten Handlung scheint er dieses Gefängnis abgeschritten und seine Ausweglosigkeit erkannt zu haben.

Der verbale Austausch der Liebenden kontrastiert mit dem von Gesten und Ritualen geprägten Zusammenleben des Ehepaares und spiegelt ihn wieder in seiner Ohnmacht gegenüber der anscheinend unüberbrückbaren Distanz. Mit schmerzlicher Ehrlichkeit gegenüber den kleinen Verletzungen und zahllosen Enttäuschungen des Lebens und Tschechowschem Gespür für die absurde Komik des Schicksals paart Tuesday, After Christmas strengen Formalismus mit einer komplexen Symbolsprache, die den Filmtitel zur Metapher für das Illusorische einer befriedigenden Konfliktlösung macht. Noch vor dem Datum bricht die Handlung ab und verwehrt den Beteiligten auf und jenseits der Leinwand einen Abschluss mit dem emotionalen Elend. Während irgendwo Edward Albee heimlich lächelt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/tuesday-after-christmas