Winter´s Bone

Der ganz reale Horror des "White Trash"

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Geht man allein nach dem Bild, das man durch das Kino vermittelt bekommen hat, sind die Wälder der USA kein erhabener Sehnsuchtsort wie in Deutschland, sondern ein Hort des Wahnsinns und der Dumpfheit. Dort, bei den sprichwörtlichen Hinterwäldlern, das wissen wir aus unzähligen Horrorstreifen und "Backwood Slashern", ist die zivilisierte Welt zu Ende, herrschen andere Gesetze, denen jegliche zivilisatorische Tünche abhanden gekommen ist. Es gilt allein das Recht des Stärkeren (wobei: ist dies nicht auch überall anders der Fall?), das Leben ist hier ein einziger Kampf ums Überleben, dem vor allem die Schwachen und Ahnungslosen zum Opfer fallen. Im Prinzip ist auch Debra Granik’s Winter’s Bone, 2010 in Sundance mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet, nichts Anderes als ein Horrorfilm in der Tradition der "Backwood Slasher". Wobei der Horror hier nichts mit wahnsinnigen Killern, verdrängten Trieben und Unmengen an (Kunst)Blut zu tun hat, sondern mit den realen Lebensbedingungen und der Hoffnungslosigkeit des so genannten "White Trash".
Irgendwo in den waldigen Hügeln der Ozark-Berge im Süden des US-Bundesstaates Missouri lebt die Familie Dolly in ärmlichsten Verhältnissen. Um seine Familie über Wasser zu halten, betätigt sich Vater Jessup wie viele der Männer, die hier leben, als Chrystal Meth-Produzent und Dealer und verbringt mehr Zeit im Knast als in Freiheit. Da die Mutter psychisch krank und deshalb nicht in der Lage ist, sich um ihre Kinder zu kümmern, sorgt die 17-jährige Ree (Jennifer Lawrence) für ihre beiden jüngeren Geschwister Sonny (Isaiah Stone) und Ashlee (Ashlee Thompson). Als Jessup zu einer Gerichtsverhandlung nicht erscheint (dass er auf freiem Fuß ist, weiß die Familie nicht einmal), taucht die Polizei auf und droht mit der Pfändung der Blockhütte der Dollys, da der Vater diese als Kaution verpfändet habe. Dann hätten sie zu den ganzen Problemen, die sie eh schon plagen, auch noch die Last der Obdachlosigkeit zu schultern. Um das Schlimmste abzuwenden, macht sich Ree auf die Suche nach ihrem Vater und stößt innerhalb ihrer eigenen Verwandtschaft auf einer Mauer des Schweigens und der offenen Feindseligkeit. Doch Ree lässt sich durch nichts und niemand von ihrem Vorhaben abbringen, ihren Vater aufzuspüren. Ihr bleiben genau sieben Tage Zeit, um die Angelegenheit zu regeln.

Von der ersten Minute an sitzt man wie gebannt in diesem Film und folgt Ree bei ihrer Reise durch die Hölle des erbärmlichen Daseins, das sie und nahezu alle Menschen in ihrer Umgebung führen. Das Schreckliche dabei liegt nicht in der offen gezeigten Brutalität und Gewalt (die spielt sich eher am Rande ab), es zeigt sich vielmehr ganz unmittelbar an den gegerbten, von Armut, Suff, Drogenabhängigkeit und Gewalt gezeichneten Gesichtern, äußert sich in dem was sie sagen und manifestiert sich in ihren Taten oder ihrer Unfähigkeit zu handeln. Was uns erschreckt, ist das Entsetzen, dass in einem Land wie den USA solche Existenzen überhaupt möglich sind. Es ist – und das ist erstaunlich genug für einen Spielfilm und zeigt die besondere Güte von Winter’s Bone – der Schock des Realen. Selbst wenn man weiß, dass dies hier alles inszeniert und (durchweg exzellent) gespielt ist, zweifeln wir doch keinen Augenblick an der Authentizität des Ganzen.

Wären nicht die amerikanischen Flaggen, die Kleidung, die Country-Musik und die Autos, kurzum all das, was man kennt – man würde kaum auf die Idee verfallen, dass dieser Film in den Vereinigten Staaten spielt. Wie eine Ethnologin folgt Debra Granik gemeinsam mit ihrem Kameramann Michael McDonough der Spurensuche Rees und zeichnet nebenbei ebenso faszinierendes wie abstoßendes Bild des amerikanischen Prekariats, das wie eine fremde Zivilsationsform fernab der "normalen" Welt erscheint. Dennoch gerät die schmerzliche Erforschung der Menschen am Rande der Gesellschaft nie zum Sozialporno, trotz aller Widrigkeiten und dem durchweg nicht gerade sympathischen Wesen der Akteure behalten sie stets ihre Würde – oder was davon übrig geblieben ist.

Trotz (eventuell auch genau wegen) dieser durchaus dokumentarischen Qualitäten und der distanzierten Beobachtungshaltung, die Granik einnimmt, ist Winter’s Bone zugleich auch ein enorm spannender Film geworden, dessen bedrückende Atmosphäre irgendwo zwischen Thriller und sanftem Horrorfilm oszillliert. Das wahre Grauen, das macht Winter’s Bone auf eindrückliche Weise deutlich, liegt nicht in den Fantasiekonstrukten der "Backwood Slasher", sondern vielmehr in der Realität. Vielleicht erklärt sich dadurch ja das Irritierende und Faszinierende an diesem Film – dass sich das (wahre) Leben und die Kunst hier so nahe kommen, wie man das sonst selten im Kino sieht.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/winters-bone