Un homme qui crie - Ein Mann der schreit

Ein subtiles Vater-Sohn-Drama aus dem Tschad

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Es ist eine trügerische Idylle, eine Scheinwelt angesichts des Elends, der Armut und den Schrecken des Krieges, die jenseits des Zaunes der luxuriösen Hotelanlage in N’djamena, der Hauptstadt des Tschad, herrschen. Im gepflegten Areal des Hotels ist die Welt noch in Ordnung. Und besonderen Wert legt man darauf, dass vor allem der Pool-Bereich immer in schönster Ordnung ist. Dies ist das Reich von Adam (Youssouf Djaoro), dem Bademeister, der vor vielen Jahren einmal zentralafrikanischer Schwimmmeister war, weshalb ihn alle nur "Champ" nennen. Adam geht auf die Sechzig zu und wird mittlerweile von seinem Sohn Abdel (Dioucounda Koma) unterstützt, der Champ ist fast so etwas wie der heimliche Chef des Hotels – servil den Gästen gegenüber, aber in seiner Nachbarschaft auf diskrete Weise geachtet und mit dem Bewusstsein eines Mannes ausgestattet, der seinen Job gut macht.
Die Verlässlichkeit, die Adam ausstrahlt, wird auch deswegen so geschätzt, weil die zentralafrikanische Republik selbst wenig Stabilität besitzt. Seit 1998 flammen immer wieder Bürgerkriege auf und nach einer kurzen Phase der Ruhe haben die Konflikte in der benachbarten westsudanesischen Provinz Darfur auch auf den Tschad übergegriffen. Auch wenn man von diesen Kämpfen anfangs nichts mitbekommt, so ist doch die Verunsicherung und die Gefahr ein ständiger Begleiter. Die jungen Männer des Landes sollen ihren Beitrag leisten und werden als Soldaten rekrutiert, nur wer über viel Geld verfügt, kann sich freikaufen vom Dienst an der Waffe.

Und es gibt noch anderen Veränderungen, die Adam bald schon viel unmittelbarer betreffen: Als die wohlhabende Chinesin Mrs. Wang die Hotelanlage kauft, kommt es zu Entlassungen und Umstrukturierungen, die die über Jahrzehnte gewachsenen Hierarchien auf den Kopf stellen. Adam wird aufgrund seines Alters zum Schrankenwärter des Hotels degradiert, seine bisherige Aufgabe wird nun Abdel übertragen – eine Schmach, die einen Keil in das bislang gute Verhältnis von Vater und Sohn treibt. Zumal Abdel keinerlei Anstalten macht, sich bei der neuen Führung des Hotels für seinen Sohn einzusetzen.

Als die Armee schließlich Abdel verschleppt, weil Adam die geforderte Summe nicht aufbringen kann (und will), kann der "Champ" endlich wieder in seinen geliebten alten Job zurück – doch der Preis ist unerträglich hoch. Und als Abdels Freundin Habiba Adam aufsucht, da versteht der Bademeister erst das Verhalten seines Sohnes, der nichts anderes im Sinn hatte als für seine zukünftige eigenen Familie Sorge zu tragen. Gepeinigt von seinem schlechten Gewissen macht sich der Vater auf die Suche nach seinem verlorenen Sohn.

Un homme qui crie – Ein Mann, der schreit ist nicht nur deshalb etwas Besonderes, weil er als erster Film aus dem Tschad im Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes zu sehen war. Bemerkenswert ist Mahamat-Saleh Harouns Film auch wegen seiner Subtilität, mit der er große Emotionen und die Dramen in einem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land, die Folgen der Globalisierung und des Postkolonialismus auf die Leinwand bringt. Man braucht einiges an Geduld, um an der langsamen Entwicklung der Geschichte und an der schleichenden Veränderung der Charaktere teilzuhaben. Viele der Konflikte, Sorgen und existenziellen Nöten bekommen wir gar nicht direkt zu sehen, sondern finden sie widergespiegelt auf den Gesichtern, denen der Regisseur im Verlauf des Films immer näher kommt. Die vielen kleinen und großen Tragödien, die Haroun mit diskretem und dennoch genauem Blick erforscht und verhandelt, erschließen sich manchmal erst auf den zweiten oder dritten Blick – und sind gerade deshalb umso wirkmächtiger als manche Inszenierung, die voyeuristisch Leid und Leiden ausstellt und vorführt und dem Zuschauer zugleich wenig Platz für eigene Imaginationen lässt. Folgt man der Strategie Harouns anfangs auch an manchen Stillen mit Widerwillen und Ungeduld, so entfaltet sich im Lauf der Handlung in seiner simplen Vater-Sohn-Geschichte ein komplexes Feld von Querverweisen und Wechselbeziehungen, die neben dem Privaten auch gesellschaftliche, politische und ökonomische Probleme streifen.

"Un homme qui crie n'est pas un ours qui danse" – "Ein Mann, der weint, ist kein tanzender Bär", steht am Ende des Films zu lesen, es ist ein Zitat des 2008 verstorbenen afrokaribischen Schriftsellers und Politikers Aimé Césaire, das zugleich den Arbeitstitel für diesen Film bildete, bevor man diesen verkürzte. Trotz dieser Verknappung schwebt das Zitat Césaires wie ein unsichtbares Motto über dem Film. Es verweist auf den nötigen und oftmals fehlenden Respekt im Umgang mit dem Leid der Menschen und darauf, dass dieses Leid heute allzu oft der Befriedigung unserer voyeuristischen Schaulust dient. Die Aufgabe, die sich aus diesem Satz ableitet, erfüllt Un homme qui crie – Ein Mann, der schreit auf seine ganz eigene und sehr stille Weise.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/un-homme-qui-crie-ein-mann-der-schreit