Aurora

Erbarmungslos

Eine Filmkritik von Patrick Wellinski

Dieser Film ist eine Zumutung. Eine dreistündige, sorgsam aus langen, ungeschnittenen Einstellungen geformte Zumutung. Es ist ein extremer Blick in die völlig undurchsichtigen Abgründe der Gewalt. Ein verstörend ruhiger Ritt in jene Gegend des menschlichen Verhaltens, die nur noch Schrecken und Machtlosigkeit zulässt. Aber wo, wenn nicht im Kino, setzen wir uns liebend gern einer solchen haarsträubenden Erfahrung aus? Vor allem dann, wenn man sich in den Händen eines intelligenten Regisseurs befindet, der nie in die Verlegenheit gerät sich im Ton oder der Haltung zu vergreifen. Aurora von Cristi Puiu ist so ein Fall – ein Glücksfall.
Es ist typisch für einen gewissen Strom des aktuellen rumänischen Kinos, dass sich die Handlung nicht auf klassische Weise zusammenfassen lässt, und das obwohl die Ausgangslage relativ simpel konstruiert ist und die Handlung meistens an einem Tag spielt (oder wie in diesem Fall an knapp zwei Tagen). Auch Aurora liegt keine einfache Geschichte zu Grunde, es wird vielmehr ein Prozess beobachtet. Der Film folgt dem 42-jährigen Viorel (gespielt von Regisseur Cristi Puiu selbst) durch seinen Alltag in und um das heutige Bukarest. Wir sehen, wie er ganz zu Beginn einen Mitarbeiter in einer Metallfabrik auffordert, ihm geliehenes Geld wieder zu geben; sehen, wie er durch die Stadt läuft, sich in seinem Appartement bewegt und wie er sich ein Gewehr zulegt. Da hat sich der Film bereits mit einer unguten Atmosphäre aufgeladen, die den Mann mit dem bedrohlichen Blick hoch verdächtig erscheinen lasst. Und dennoch sitzt der Schock sehr tief, wenn wir merken, dass Viorel das Gewehr später dazu einsetzen wird, um mehrere Menschen kaltblütig zu ermorden.

Aurora ist das Porträt eines Mörders. Kalt und unmittelbar mordet Viorel vor unseren Augen. Die Gründe und Motive lässt der Film außer Acht. In den Kopf eines Killers wagt sich der Regisseur nicht vor und so sammeln sich während der gesamten Laufzeit eine Menge Fragen an: Warum macht er das? Was haben ihm die Menschen getan? Ist er gestört? Verletzt? Ein Irrer? Das Böse in Person? Die Fragen richten sich schon bald nicht nur gegen den Protagonisten, sondern auch gegen den Regisseur und sein Konzept (der ja hier – intelligenterweise – ein und dieselbe Person ist). Darf man das? Warum ignoriert der Film die Opfer? Geht der Film nicht zu weit?

In dem Moment, wo wir uns das fragen, sind wir bereits in jenem Strudel aus Widersprüchen und unangenehmen Wahrheiten gefangen, auf die es dieser überragende Film angelegt hat. Puius Entscheidung, uns nur mit den Taten eines mehrfachen Mörders zu konfrontieren und seine Motive und Beweggründe nahezu vollkommen aus der Handlung auszuklammern, ist hochgradig riskant und lädt natürlich zu vorschneller Kritik ein. Es ist ein Monsterfilm. So wie neulich erst Markus Schleinzers provokanter Michael einer war und auch Matthias Glasners Der freie Wille. Es sind Monsterfilme, weil sie den Täter als Hauptprotagonisten etablierten. Die Vorwürfe gegen diese filmischen Drahtseilakte sind stets dieselben. Doch Abscheu und Empörung erwachsen aus einer völlig falsch verstandenen "political correctness", die in der Kunst fehl am Platze ist. Auch wenn der Titelheld nicht auf der moralisch guten Seite ist – diese Filme sind es.

Aurora macht es sich niemals leicht. Und zynisch ist dieser Film schon gar nicht. Das Morden Viorels wird gerade durch das bewusste Enthalten einer konkreten psychologischen Begründung erst so unerträglich und unkonsumierbar. Das ändert sich auch nicht am Ende, wenn der Film die tragischen Spurenelemente eines Motivs skizziert. Das Ganze wird nur noch verstörender. Eine Wirkung, die auch dadurch erzielt wird, dass Viorel immer Mensch bleibt und als Figur nie zu einer überhöhten und karikierten Mordmaschine verkommt. Dass dies gelingt, liegt auch an der strengen Form, die Puiu wählt. Sie lässt keine Identifikation zu. So beobachtet die Kamera Viorel gerne durch halboffene Türen. Eine Perspektive der Distanz, aber nie des Wegschauens. Die Gewalt wird so in all ihren Aspekten und Auswüchsen entromantisiert, was im Kino eher selten der Fall ist.

Zudem bezieht sich die Gewalt, die hier im Mittelpunkt steht, nicht nur auf Viorels bestialische Verbrechen, sie ist auch sonst virulent und allgegenwärtig. Wie ein kaum sichtbarer Schleier hat sie sich längst über die Umwelt der Menschen gelegt. Man muss nur einmal darauf achten, wie Kameramann Viorel Sergovici das Klima des post-kommunistischen Bukarest in unheimlich tristen Bilder einfängt. Es wird deutlich, wie sehr sich das Hässliche und Unmenschliche bereits tief in die Ziegel der grauen Häuserfassaden eingefressen hat. Man meint das Böse förmlich zu spüren, wie es im Asphalt lauert und durch die trüben Scheiben und Fenster auf die gebeugten Gestalten auf der Straße blickt. Vielleicht ist es sogar bereits in der Luft, die Viorel und die anderen atmen.

Die Antwort auf die zwingenden Fragen, wo hier noch Widerstand zu leisten wäre und wie man sich gegen die drohende Entmenschlichung schützen könnte, kann ein Film wie Aurora gar nicht leisten. Nur insofern, dass er sie uns verweigert, weil die völlige Ohnmacht dieser fatalen Situation uns als Antwort reichen muss. Aurora ist wunderbar radikales Erfahrungskino. Ein Film, der an unseren verborgenen Instinkten rüttelt. Unbequem, quälend, mitunter auch zermürbend ist der Seheindruck, weil wir so etwas nicht in unseren Alltag eindringen lassen wollen. Den Schrecken und das Böse haben wir erfolgreich in den Bereich der Fiktion und der Fernsehnachrichten verbannt. Der Mensch bleibt halt ein exzellenter Verdrängungskünstler. Mit Aurora blickt man – wenn man sich traut – in den Abgrund. Und man erkennt: Die Grenze zum Tier ist weiterhin schmal.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/aurora