Alles, was wir geben mussten

In der Zwischenwelt einer barbarischen Zwei-Klassen-Gesellschaft

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Kazuo Ishiguro ist ein Mann mit erstaunlichen und vielfältigen Talenten: Neben seinen Romanen, von denen manche Kritiker behaupten, sie böten das in der aktuellen britischen Literatur das schönste Englisch, schreibt der 1954 in Nagasaki geborene Schriftsteller auch Drehbücher (so stammt unter anderen die Vorlage zu Guy Maddins The Saddest Music in the World von ihm) und sogar Songtexte. Trotz dieser enormen Produktivität zeichnen sich Ishiguros Bücher vor allem durch leise Töne aus, durch atmosphärisch dichte Schilderungen der Welt, die tief im Herzen berühren und auf magische Weise bannen. Mit seiner ganz eigenen Art des Schreibens ist Ishiguro auf den ersten Blick nicht unbedingt eine nahe liegende Wahl für das Kino mit anvisierter Massenwirkung. Weil so feine Zwischentöne und das Behutsame seiner Literatur auf der großen Leinwand eher unterzugehen drohen. Umso erstaunlicher und faszinierender ist deshalb, was Mark Romanek (One Hour Photo) aus dem Roman Never Let Me Go geformt hat – ein wundervoll anrührendes großes Kinoepos, dessen ganze Grausamkeit und Schönheit sich dem Zuschauer erst nach und nach enthüllt, um ihn fortan nicht mehr loszulassen.

Die Welt, die uns Romanek in Alles, was wir geben mussten vorführt, ist nur scheinbar eine vertraute. In Wirklichkeit hat sich, als der Film in den 1970ern im ländlichen England einsetzt, die Gesellschaft bereits grundlegend verändert, wie der Vorspann auf nüchterne Weise klar macht: Durch eine nicht näher bezeichnete wissenschaftliche Revolution ist es der Medizin gelungen, den Menschen nahezu unsterblich zu machen. Doch der Preis für den Fortschritt ist hoch. Worin dieser Preis genau besteht, das ahnt der Zuschauer (auch dank der im Vorspann verratenen Grundprämisse) um einiges schneller als die drei noch kindlichen Protagonisten, die gemeinsam mit anderen Kameraden scheinbar behütet in einem Internat aufwachsen. Alles hier atmet liebevolle, aber strenge Fürsorge und das Bewusstsein, dass in Hailsham Abbey ganz besondere Menschen herangezogen werden, wie die Schulleiterin (Charlotte Rampling) bei einer Rede verdeutlicht. Die Doppelbödigkeit und Perfidie dieser "Aufzucht" tritt erst dann zutage, als eine junge Lehrerin (Sally Hawkins) die Dinge beim Namen nennt und die Kinder darüber aufklärt, was ihre wirkliche Bestimmung im Leben ist, die zudem noch in den Euphemismus einer "Vollendung" gekleidet wird.

Erschüttert von der Erkenntnis, wie ihr Leben weiter verlaufen wird, nehmen Kathy (Carey Mulligan), Tommy (Andrew Garfield) und Ruth (Keira Knightley) den Kampf um ihr Leben und um ihr kurzes Glück auf, werden auseinander gerissen, um anschließend für eine kurze Weile einander wieder zu finden, suchen nach der Liebe und anderen Auswegen bzw. Ausflüchten, um am Ende zu realisieren, dass man seinem Schicksal nicht entkommen kann – zumal dann nicht, wenn dies gesellschaftlich gewünscht und vorgezeichnet ist.

Seltsam zeitlos wirkt der Film; das Fortschreiten der Jahre hat in dieser bedrückenden Dystopie aus der Vergangenheit (die Handlung des Films endet Mitte der 1990er Jahre) sieht man vor allem an den Gesichtern der Protagonisten und an den etwas modernen Autos, während alle Modeströmungen der Vergangenheit beinahe spurlos an Kathy, Tommy und Ruth vorbeiziehen – fast so, als seien sie ebenso wie dieser Film aus der Zeit gefallen und aller natürlichen Strahlkraft beraubt, als lebten sie in einem unsichtbaren Gefängnis, einer gigantischen Blase, die Freiheit und Leben nur vortäuscht. Was de facto eine sehr zutreffende Beschreibung ihres Daseins ist. Ihr Aufbäumen gegen ihre Bestimmung entpuppt sich schlussendlich als genauso aussichtslos wie der Kampf der fahlen englischen Sonne gegen das alle Farben absorbierende Grau. Treffender kann man die Zwischenzeit, in der sich die zum Tode verurteilten Kinder befinden, wohl kaum in Bilder fassen.

So faszinierend die Ausgangslage ist, die zudem bereits in diversen Filmen zuvor erprobt wurde, so ungewöhnlich ist Ishiguros Vorlage und Romaneks Umsetzung des schwierigen Stoffes: Die Gesellschaft, die das grausamen System erfunden hat, dem die Kinder unterworfen werden, ist kein monströses Ungetüm, sondern bleibt bis auf wenige Repräsentanten (und auch diese wirken kaum unmenschlich) unsichtbar. Das Ungeheuerliche resultiert nur teilweise aus dem erbarmungslosen System an sich, sondern vielmehr aus der Widerstandslosigkeit, mit der sich alle – sowohl die Opfer wie auch die Nutznießer des Konstrukts – der Zwangsläufigkeit unterwerfen, der zugedachten (Selbst)Aufgabe nachzukommen. Was durchaus als Anregung verstanden werden sollte, um darüber nachzudenken, welchen Mechanismen und Unausweichlichkeiten man sich selbst Tag für Tag unterwirft, ohne sie zu hinterfragen oder aufzubegehren.

Man kann Alles, was wir geben mussten (noch schöner ist der Originaltitel Never Let Me Go, den wir in einer herzzereißenden Szenen im Film als Song vorgeführt bekommen, der die Verlorenheit der Kinder auf perfekte Weise illustriert) als großen und sehr melancholischen Liebesfilm sehen. Aber auch als hintergründiges Gesellschaftspanorama, als vertrackten, da in der Vergangenheit und in der Erinnerung und nicht in der Zukunft angesiedelten Science Fiction, als epischen Appell an Humanität und Mitmenschlichkeit in einer Welt voller Zynismus und Ausweglosigkeit. Eines ist der Film aber ganz sicher: Richtig großes und sehr bewegendes Kino, wie man es in dieser Form nur viel zu selten zu sehen bekommt. Der (lediglich im Bezug auf die eigenen Emotionen) ambivalente "Genuss" dieses unendlich sanften und zärtlichen Horrorfilms wirkt auch Tage danach im Kopf noch nach.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/alles-was-wir-geben-mussten