Al Halqa - Im Kreis der Geschichtenerzähler

Wie man sein Publikum verführt

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Es ist schon erstaunlich: Selbst 560 Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks ist das Bedürfnis nach mündlich erzählten Geschichten ungebrochen. Während man jedoch in Mitteleuropa seinen Lebensunterhalt schon lange nicht mehr mit dem mündlichen Erzählen verdienen kann, gibt es in Marokko noch Menschen einer aussterbenden Spezies: Erfahrene Erzähler, denen es gelingt, auf Marktplätzen die Zuhörer um sich zu scharen. Thomas Ladenburger hat ihnen eine eindrucksvolle Dokumentation gewidmet. Der Film ist wie sein Sujet: entspannt, souverän und poetisch.
Der Filmemacher ließ sich auf dem zentralen Platz von Marrakesch von seinem Thema faszinieren. Dort, auf dem Djemaa El Fna, dem "Platz der Gehenkten" bilden sich jeden Tag die "Halqas". Das sind Kreise von Zuschauern, die sich von vielfältigen Attraktionen in den Bann ziehen lassen: Schlangenbeschwörern, Bauchtänzerinnen, Feuerschluckern, Wahrsagerinnen und so ziemlich allem, was das exotische Herz begehrt. Unter die (Lebens)Künstler und Akrobaten mischten sich bis vor wenigen Jahren auch die Geschichtenerzähler.

Einer von ihnen ist Abderahim El Maqori. Ihn hat der Regisseur vier Jahre lang begleitet. Er zeigt uns, wie dieser Meister der Erzählkunst sein Publikum betört, wie er ihm schmeichelt und es zugleich im Griff hat, wie genau er spürt, ob sich die Zuhörer noch mitreißen lassen oder nicht. Al Halqa – Im Kreis der Geschichtenerzähler verführt den Zuschauer genauso wie es Abderahim auf dem Platz tut. Der Film nimmt uns ein für die würdevolle Persönlichkeit des "Halaiqi", für seine große Erfahrung, sein entspanntes Wesen und seine leise Autorität. Wir lernen seine Familie kennen, die beschränkten materiellen Verhältnisse und den großen spirituellen Reichtum, der dieses Leben so faszinierend macht. Der Film nimmt uns mit auf eine Reise durch erhabene Landschaften und das pralle Leben in den Städten Marrakesch und Fès. Er verwebt die kurzen Ausschnitte aus den Erzählungen mit dem realen Geschehen, sodass bei allem Realismus immer auch die Poesie aus 1001 Nacht durchschimmert.

Ein Glücksfall für den Film ist die Tatsache, dass Abderahims 16-jähriger Sohn Zoheir Schauspieler werden möchte und deshalb dem Beruf des Vaters nicht ganz ablehnend gegenübersteht. Zoheir geht zwar noch zur Schule, aber er begleitet den Vater auch auf den Marktplatz und erzählt sogar selbst Geschichten. Der Vater erklärt ihm die Prinzipien des Erzählens, nimmt ihn sozusagen an die Hand, in einer bewundernswerten Mischung aus Strenge und Nachsicht. Auf diese Weise kann Thomas Ladenburger sein Zentralthema am Beispiel dieser ebenso spannenden wie anrührenden Vater-Sohn-Beziehung aufrollen: Geht mit Erzählern wie Abderahim ein Kulturgut unwiederbringlich verloren oder lässt sich die Kunstfertigkeit des mündlichen Erzählens selbst in einer globalisierten Welt erhalten, die ihre Symbole und Werbebilder selbst in den entlegensten Dörfern platziert.

Tatsache ist: Die UNECSO hat den Djemaa El Fna-Platz und seine Halqas 2001 zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt. Das ist einerseits tröstlich, spiegelt aber auch die Bedrohung. In den letzten zwei Jahren, berichtet Thomas Ladenburger, sind die Geschichtenerzähler fast nicht mehr auf dem Platz aufgetaucht. Es gibt sie zwar noch, aber sie verdienen zu wenig und müssen sich mit anderen Tätigkeiten über Wasser halten.

In seinem Engagement für die Erzählkultur geht Thomas Ladenburger über die Filmdokumentation hinaus. Damit die zum Teil nur mündlich überlieferten Geschichten nicht verloren gehen, werden sie im Rahmen eines breit angelegten Gesamtprojekts als Buch und Hörbuch publiziert. Aber der Regisseur will mehr als nur konservieren. Die Gelder aus dem Projekt sollen dazu dienen, die Ausbildung junger "Halaiqis" zu finanzieren. Von gut erzählten Geschichten kann man schließlich nie genug kriegen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/al-halqa-im-kreis-der-geschichtenerzaehler