Der Mann, der Liberty Valance erschoss

Ein Klassiker des Western

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Das klassische Western-Genre, das von der Darstellung der Mythen und Legenden um den so bezeichneten Wilden Westen lebt, hat sich vor allem durch die späten Werke des großartigen US-amerikanischen Regisseurs John Ford signifikant entwickelt. In dem Klassiker Der Mann, der Liberty Valance erschoss aus dem Jahre 1962 mit James Stewart, John Wayne und Lee Marvin in den Hauptrollen erhebt der immens produktive Filmemacher die Legendenbildung um Helden und Schurken selbst zum Thema. Diese Betrachtungen innerhalb einer ebenso ambivalenten wie melancholischen Geschichte nach der gleichnamigen Erzählung von Dorothy Marie Johnson im Spannungsfeld von Mythos und Wirklichkeit münden in ein berühmtes Filmzitat, das John Fords kritische Haltung auch seinen eigenen frühen Western gegenüber transportiert und am Ende des Films dem Chefredakteur einer Zeitung in den Mund gelegt wird: "If the legend becomes fact, print the legend."
Als der grobschlächtige Cowboy Tom Doniphon (John Wayne) verstirbt, trifft Senator Ransom Stoddard (James Stewart) gemeinsam mit seiner Frau Hallie (Vera Miles) im Städtchen Shinbone ein, um der Beerdigung beizuwohnen. Anlässlich in Erinnerungen an seine schwierige Anfangszeit als junger Anwalt in Shinbone versunken, aus welcher er schließlich als der gefeierte Mann hervorging, der den berüchtigten Banditen Liberty Valance (Lee Marvin) zur Strecke brachte, offenbart Stoddard den interessierten Reportern des Ortes nunmehr die wahre Geschichte um die Ereignisse von damals. Denn während dieser politisch turbulenten Tage, die zu seinem Aufstieg zum Senator führten, hatte Tom Doniphon, der ebenfalls in die hübsche Hallie verliebt war, ihm mehr als ein Mal das Leben gerettet, und der Cowboy war auch in jener Nacht zugegen, als der ungeschickte Stoddard Liberty Valance mit der Waffe herausforderte ...

In düsteren, markanten und intensiven Schwarzweißbildern der Kamera des Western-Experten William H. Clothier inszeniert stellt Der Mann, der Liberty Valance erschoss einen atmosphärisch dichten, vielschichtigen Genre-Film mit filigran installierter Selbstreferenz dar. Wird das prägnante Zitat über die Legende, die zur Wirklichkeit wird, auch in der deutschen Synchronfassung unzureichend berücksichtigt, kommt hier dennoch die Problematisierung des Umgangs mit den einschlägigen Westernmythen deutlich zum Ausdruck. Mit James Stewart als modernem, furchtsamem Vertreter des Gesetzes, John Wayne als tapferem Vollstrecker der alten Garde und Lee Marvin als Repräsentanten der bösartigen Macht des Stärkeren entsteht ein Szenario der stilisierten Wild-West-Welten im Wandel, dessen eindeutiger Proklamation jedoch durch das zynisch-sanfte Ende eine Absage erteilt wird – ein sehenswerter Western mit starken signifikanten Momenten, die John Ford trotz eigener gegenteiliger Behauptungen als sozialpolitisch bedeutsamen Regisseur ausweisen.

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