Soul Boy

Mehr als nur Magie

Eine Filmkritik von Peter Gutting

So einfach kann Kino sein: Irgendwann erhebt sich die Kamera zum ersten Mal in die Lüfte und ersetzt ellenlange soziologische Analysen. Mit einem Blick wird klar, was es bedeutet, in einem Slum zu leben. Aber nicht die Klage über das Elend ist das Ziel von Hawa Essumans wundervoll optimistischem Film. Statt dessen erzählt sie in Soul Boy von einem Abenteuer, das tief in die Weisheit des Volksglaubens eintaucht. Ein Märchen also mit realistischem Hintergrund, das neben Kindern auch Erwachsene in den Bann zieht.
Die kenianische Regisseurin und ihr Regie-Supervisor Tom Tykwer schildern eine magische Episode im Leben des 14-jährigen Abi (Samson Odhiambo). Sein Vater betreibt mehr schlecht als recht einen kleinen Laden im Kibera-Slum am Rand von Nairobi, mit etwa einer Million Menschen eines der größten Elendsviertel Afrikas. Eines Morgens geht gar nichts mehr. Nach durchzechter Nacht erklärt der Vater seinem Sohn, er könne nicht mehr arbeiten, weil ihm die Geisterfrau Nyawawa seine Seele geraubt habe. Tatsächlich kann Abi die mysteriöse Frau auftreiben. Sie erklärt ihm, dass er das Versagen seines Vaters nur dann wieder gutmachen kann, wenn Abi sieben Mutproben besteht. Es bleiben ihm dafür genau 24 Stunden.

Natürlich wird man als nüchtern denkender Westeuropäer die Arbeitsverweigerung des Vaters eher dem Alkohol zuschreiben als einer Frau aus dem Geisterreich, die sich aus Liebeskummer das Leben genommen hat und nun zurückgekehrt ist, um sich an den Männern zu rächen. Aber der Zauber dieses mit wenig Geld gedrehten Films besteht gerade in der eleganten Verschränkung von Mythologie und Wirklichkeit, in einem magischen Realismus par excellence. Schließlich ist es trotz westlicher Hilfe ein afrikanischer Film, der da entstanden ist. Die Geschichte hat ihre Wurzeln in der Mentalität und Spiritualität der Region um Nairobi, in dem uralten Glauben des Stammes der Luo, der zweitgrößten Ethnie in Kenia.

Trotzdem: Ohne Unterstützung aus dem Westen hätte es den Film nie gegeben. Es ist unter anderem dem deutschen Regisseur Tom Tykwer und der Produzentin Marie Steinmann zu verdanken, dass die Arbeit in Gang kam. Die beiden gründeten 2008 den Verein "One Fine Day e.v.", eine Initiative, die Kunstunterricht in Afrika unterstützt – sei es Malerei, Musik, Theater, Tanz oder Film. Soul Boy wurde bis auf wenige Ausnahmen mit Schauspielern aus den Slums besetzt. Die wichtigen Positionen hinter der Kamera übernahmen Kenianer, die von europäischen Mentoren betreut und gefördert wurden.

Besonders hilfreich für den ebenso spannenden wie hintergründigen 60-Minuten-Film ist das kluge Drehbuch, das der kenianische Schriftsteller Billy Kahora verfasst hat. Mit präzisem Gespür für optisch eindrucksvolle Szenen schreibt er sozusagen auf zwei Ebenen. Zum einen bedient er die Abenteuerlust von "großen" und kleinen Kindern. Zum anderen gibt er den Zuschauern Stoff zum Nachdenken mit auf den Heimweg. Zum Beispiel darüber, ob die Seele von Abis Vater nicht wirklich verloren gegangen ist in dem harten Überlebenskampf, der es dem Händler schwer macht, angemessen für seine Familie zu sorgen. Oder ob sich in Alis Mutproben nicht tatsächlich das Schicksal von Slumkindern spiegelt, die allzu früh erwachsen werden müssen.

Die Kinderdarsteller von Ali und seiner Freundin Shiku (Leila Dayan Opollo) dagegen sind auf eine positive Weise mit ihren Aufgaben gewachsen, im Film wie im richtigen Leben. Sie strahlen eine derartige Lebenskraft aus, dass man ihnen den Mut ihrer Figuren problemlos abnimmt. Auch ihrem privaten Leben hat das Projekt eine neue, hoffnungsvolle Richtung gegeben. Samson hat von seiner Gage die Hütte seiner Familie in Kibera renoviert und Leila besucht heute eine Schule, die auf Theater und Kunst spezialisiert ist.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/soul-boy