Das Schreiben und das Schweigen

Von der Poesie des Unsagbaren

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Das ist keine leichte Aufgabe: Eine Dokumentation über eine Frau zu drehen, die keine Interviews mag. Regisseurin Carmen Tartarotti hat es trotzdem geschafft, mit der Schriftstellerin Friederike Mayröcker ins Gespräch zu kommen. Mehr noch: Ihr ist ein wunderbar intimes Porträt einer ebenso sanften wie entschlossenen Frau gelungen. Ein Dialog, der weit über das gesprochene Wort hinausgeht und vieles von dem einfängt, was sich zwischen Menschen auf einer intuitiven Ebene abspielt. Dafür gab’s 2009 den Hessischen Filmpreis und 2010 den Preis des Frankfurter "Lichter"-Festivals.
Die einfühlsame Qualität dieser hervorragend montierten Lebensstudie ist alles andere als Zufall. Carmen Tartarotti kennt die Wiener Schriftstellerin seit mehr als zwei Jahrzehnten. 1989 drehte sie ihren ersten Film über sie, eine 45-minütige Fernseharbeit. Für die zweite Dokumentation hat sie sich eine umfangreichere Hommage vorgenommen – eine Begegnung frei von den formalen und inhaltlichen Beschränkungen des TV-Formats. Das ist ihr rundum gelungen. Das Schreiben und das Schweigen spiegelt die ungewöhnliche Begegnung mit einer ungewöhnlichen Frau wider. Gerade weil sich Carmen Tartarotti der 85-Jährigen so respektvoll nähert, kommt sie ihrer Arbeit und ihrem Leben so unglaublich nahe.

Friederike Mayröcker ist eine der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen deutscher Sprache. Ihre Lyrik und Prosa waren nie leichte Kost, sondern geprägt von einem experimentellen und surrealistischen Umgang mit Sprache. 1954 lernte Friederike Mayröcker Ernst Jandl kennen, der von da an ihr Lebensgefährte wurde – bis zu seinem Tod im Jahr 2000. Auch wenn sich die beiden über die Arbeit des anderen austauschten, legten sie großen Wert darauf, nicht in einen Topf geworfen, sondern mit einem eigenständigen, ganz unterschiedlichen Werk wahrgenommen zu werden.

In gewisser Hinsicht ist Das Schreiben und das Schweigen tatsächlich ein Film über das Schweigen geworden. Aber nicht, weil Friederike Mayröcker die Auskunft verweigert hätte. Und auch nicht, weil die Wortkünstlerin von sich glaubt, sie habe im mündlichen Ausdruck weniger Talent als an der Schreibmaschine. Sondern weil sich ihr Schreiben vor allem mit dem beschäftigt, was zwischen den Zeilen schwebt: mit jener Magie der Sprache, die sich ins Unsagbare vorwagt. In eine Zauberwelt, die sich von der gewöhnlichen Realität unterscheidet.

Friederike Mayröcker beschreibt in dem Film ihre Arbeitsweise auf eine verblüffend einleuchtende Weise. Da sind zum einen die Worte, die ihr einfallen, wenn sie sich auf sinnlich wahrnehmbare Gegenstände bezieht. Die schreibt sie auf ein Blatt Papier und beobachtet, welche Beziehungen sie zueinander eingehen. Aber dann sind da die surrealen Einschübe in solchen Texten, die sich nicht aus der Beobachtung ergeben, sondern aus Einfällen, Gedankenspielen und ungewöhnlichen Kombinationen. Solche Ideen sammelt die Schriftstellerin in unzähligen Wäschekörben, die zusammen mit anderen Blättern und Notizen ihre Wohnung in einen ungeheuren Zettelkasten verwandeln. Für den Betrachter wirkt dies zunächst wie das Chaos eines "Messie". Aber wer bereit ist, sich auf die ganz persönliche Lebens- und Arbeitswelt einer ebenso leisen wie weisen alten Frau einzulassen, versteht bald, wie wichtig die äußeren Dinge für ihren Schreibprozess sind.

Carmen Tartarotti kombiniert das Leben Friederike Mayröckers auf eine einfache, aber wirkungsvolle Weise mit ihrem Schreiben. In einer poetischen Bildsprache fängt sie ihren Alltag ein, der assoziativ unterlegt ist mit dazu passenden Texten der Schriftstellerin – oder mit Passagen aus den Interviews, die Mayröcker der Filmemacherin trotz ihres Unwillens gegen das Frage-Antwort-Spiel gegeben hat. Nicht nur aufgrund der Worte, sondern vor allem aufgrund der Bilder entsteht so ein höchst beredter Film über die Poesie des Unsagbaren.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/das-schreiben-und-das-schweigen