Im Bazar der Geschlechter - Director's Cut (2023)

Man muss keinen Schleier lüften, nur offene Fragen stellen

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass wir als Durchschnittsmenschen auch nur eine vage Vorstellung davon haben, wie sich das private Leben in anderen Gesellschaften tatsächlich abspielt – von welchen Regeln es geleitet, von welchen Träumen es erfüllt ist. Gerade in Bezug auf jene Länder, in denen die Bevölkerung mehrheitlich dem Islam in seinen zahlreichen Ausprägungen angehört, kommt wahrscheinlich noch hinzu, dass allein schon die meist furchtbar undifferenziert geführten Debatten um Integration in Deutschland eher pauschale Fehlmeinungen fördern und Halbwissen zementieren.

Da kommt ein Dokumentarfilm wie Im Bazar der Geschlechter gerade recht. Die Regisseurin Sudabeh Mortezai hat sich schon 2006 in Children of the Prophet in den religiösen Alltag im Iran vertieft; nun kehrt sie zurück mit der so scheinbar einfachen wie für Westler vermutlich verwirrenden Frage, wie das denn eigentlich mit der islamischen Zeitehe funktioniere.

Diese Ehen, so erfährt man, sind auf Zeit geschlossene Gemeinschaften, in denen die Männer den Frauen ein Brautgeld schuldig sind und (zumindest teilweise) für ihren Unterhalt aufkommen müssen. Mortezai lässt verschiedene Geistliche zu Wort kommen, die alle die Legalität dieses Konzeptes bestätigen, wenn sie zum Teil auch die Bedeutung und die genauen Bedingungen unterschiedlich darstellen. Die Zeitehe sei eine wunderbare Möglichkeit, sich eine richtige Ehe zu erproben, schwärmt der eine. Auch könne etwa ein Mann Zeitehen neben seiner normalen Ehe eingehen – so lange er es sich finanziell leisten kann –, und ein Mullah bedauert deutlich, dass die Polygamie im Iran nicht wie früher oder jetzt noch in Saudi-Arabien, ganz normal sei: Das sei doch das Praktischste für die Männer.

Schon da bekommt man eine Ahnung, dass mit dem schönen Bild von der problemlosen Zeitehe, die zuerst mit zufriedenen Paaren und sanften Worten der Geistlichen sehr positiv dargestellt wird, etwas nicht ganz in Ordnung sein mag; vor allem die nicht mehr ganz jungen, geschiedenen und verwitweten Frauen, die im letzten Drittel des Films ausführlich zu Wort kommen, machen ohne jede Bitterkeit und gut gelaunt deutlich, dass auch die Zeitehe eine durchaus problematische Einrichtung ist, die zwar auch im Iran offenbar recht tabuisiert ist und in konservativen Kreisen verpönt, in der sich die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern zugleich aber ähnlich spiegeln wie in der normalen Ehe.

Aber sind diese Machtverhältnisse überhaupt so klar? Das Wunderbare an Im Bazar der Geschlechter ist, dass er seinen Titel und sein Thema schon einmal eine ganze Weile lang links liegen lässt; zwar drehen sich die Gespräche der Menschen – meist sprechen sie untereinander, gelegentlich greift die Regisseurin fragend ein – oft um die Zeitehe, aber es geht doch immer wieder um alles mögliche andere. Da berichtet ein Taxifahrer davon, wie schwer es für ihn ist, als Single eine Wohnung zu mieten – gesucht wird immer nach Ehepaaren. Und als er dann eine findet, kommt alsbald seine Ex-Zeitfrau zu Besuch und macht ihm ein Essen, während er danebensteht und raucht und erzählt.

Eine andere Frau erzählt – gelassen, fast heiter – davon, wie ihr inzwischen geschiedener Mann sie verprügelt hat, weil sie sich weigerte, als Prostituierte zu arbeiten; auf Prostitution, fügt die am Tisch sitzende Anwältin hinzu, stehe im Iran die Todesstrafe durch Steinigung. Für die Frau, wohlgemerkt, nicht den Zuhälter-Ehemann.

Es gibt, mit anderen Worten, diese Geschichten und jene; es gibt Glück und Schrecken und furchtbar viel Alltag in diesen Leben, und genau nach solchen Bildern aus dem Iran sollte uns dursten; nach den Dingen, die diese ganz gewöhnlichen Frauen bewegen, die sich dann irgendwann zum Kaffeesatzlesen treffen, und keine glaubt so richtig an das, was sie da machen. Großes Kichern rundherum.

Zugleich zeigt Mortezai, in Ludwigsburg geboren, im Iran und in Österreich aufgewachsen, auch Bilder aus dem öffentlichen Leben, das hier im Gegensatz zu den lebendigen Gesprächen im Privaten, fast mechanisch und unmenschlich wirkt, aber zu allererst zu einer technisch modernen Gesellschaft gehört: Da fahren Unmengen Autos, die Massen strömen in die U-Bahn – aber die wiederum hat Waggons, die allein Frauen vorbehalten sind. Mit westlichem Blick fühlt man sich da vielleicht ungut an die Trennung von Schwarzen und Weißen im öffentlichen Leben der USA bis in die 1960er oder in Südafrika noch viel später erinnert, sollte aber vielleicht die Aufteilung der Sitzplätze nach Geschlechtern in traditionellen katholischen Gemeinden Mitteleuropas nicht völlig vergessen.

Kurz vor Schluss kann man ein Gespräch verfolgen zwischen einem iranischen Blogger, der sich für die Gleichberechtigung der Frauen einsetzt, und einem jungen Geistlichen, den der Film schon von seinen ersten Minuten an immer wieder begleitet hat. Da darf einen zum einen anrühren, wie offen doch der Mullah mit dem noch Jüngeren spricht; und wie wenig er ihm zugleich in diesem Moment entgegensetzen kann.

Das ist vielleicht die einzige echte Schwäche von Im Bazar der Geschlechter: Dass man an dieser Stelle – oder vielleicht wäre es Stoff genug für einen zweiten Film – nicht aus wirklich klugem Munde mehr dazu gehört hätte, wie sich ein Geistlicher dort zu den Herausforderungen der, wenn man so will, sexuellen Revolution stellt; ob es ein solches Bemühen gibt, auf die Gegenwart mit Feingefühl und religiösem Sachverstand einzugehen.

Stattdessen wird eben zuletzt der Mullah, er ist ein wenig eitel und vielleicht auch etwas selbstverliebt, der am Anfang als durchaus sympathische Person eingeführt wird – und damit vielleicht für das mit Vorurteilen verdorbene westliche Auge ganz im Gegensatz zu den Erwartungen – fast demontiert. Seine Haltungen und Lehren werden durch die Erfahrungen der Frauen fast ungültig, und als zwei der Frauen – die Wege aller Protagonisten kreuzen sich an der einen oder anderen Stelle des Films – sein Büro verlassen, lästern sie, Mullahs seien zu geschiedenen Frauen nie so nett, das sei wohl die Wirkung der Kamera.

Aber war sie das? Diese Frage stellt der Film nie wirklich, und so hat die Art und Weise, wie das Bild vom sanften Geistlichen erst aufgebaut und dann abgerissen wird, auch einen leicht manipulativen Zug: Man hat zwar nicht das Gefühl, hier eine Unwahrheit gezeigt bekommen zu haben, aber ein bisschen wird der Zuschauer doch am Nasenring herumgeführt, am Schluss zu einer Szene hin, in der die Autorität der Gottesmänner durchaus ganz offen durch Frauen in Frage gestellt wird.

Auch das fühlt sich nicht verkehrt, gelogen oder inszeniert an: Aber es reizt durchaus den Hunger auf mehr – auf komplexere Wahrheiten über das Leben im Iran. Und das ist für eine Dokumentation ja schon kein schlechter Erfolg.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/im-bazar-der-geschlechter-directors-cut-2023