The Tree of Life

Das fliegende Auge Gottes und das heisere Raunen der Engel

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Manchmal kann einem Filmemacher auch der eigene Ruf zum Verhängnis werden oder zumindest zu einer Bürde. Das gilt erst recht dann, wenn man innerhalb der Branche solch eine legendäre Reputation genießt wie Terrence Malick. Mit nur zwei Filmen in den 1970ern (Badlands - Zerschossene Träume / Badlands, 1973 und In der Glut des Südens / Days of Heaven, 1978) machte er auf sich aufmerksam und galt als begnadeter Poet des US-amerikanischen Kinos. Der Mythos wurde zudem genährt durch seine Begeisterung für Philosophie und durch seine rätselhaften Rückzüge aus der Filmbranche, die in seiner mittlerweile 40 Jahre andauernden Karriere dafür sorgten, dass Malick insgesamt in dieser Zeit nur vier Langfilme realisiert hat. Kein Wunder also, dass nach dieser Vorgeschichte die Erwartungen an Terrence Malicks seit langem angekündigten Film The Tree of Life riesig waren - vielleicht ja auch zu riesig. Bei der Pressevorführung in Cannes wurde der Film jedenfalls neben stillerem Beifall mit deutlich vernehmbaren Buhrufen bedacht. Was die Jury aber nicht daran hinderte, dem monumentalen Werk am Ende des Festivals die Goldene Palme zuzusprechen. Zwischen diesen beiden Extremen – einerseits beinahe schon wütende Unmutsäußerungen, andererseits frenetische Zustimmung – bewegt sich The Tree of Life. Selten hat ein Film die Kritikerschar so gespalten.
Oberflächlich betrachtet erzählt Malick von dem Widerstreit zweier konkurrierender Prinzipien in der Welt, deren Existenz und Rivalität er anhand einer Familie darstellt. Diese lebt während der späten 1950er und frühen 1960er Jahren in Waco, Texas und besteht aus einem gestrengen Vater (Brad Pitt) und einer milden, oftmals ein wenig verträumt wirkenden, verständnisvollen und zur Empathie befähigten Mutter (Jessica Chastain) und deren drei Söhnen, von denen vor allem Jack (Hunter McCracken) im Mittelpunkt steht, weil vor allem er immer wieder mit seinem Vater aneinander gerät. Als bei einem Schwimmunfall ein Freund der Brüder stirbt, steht die Familie, die vom cholerischen Vater mit Strenge und Unnachgiebigkeit geführt wird, vor einer Zerreißprobe. In späteren Jahren erinnert sich Jack (als Erwachsener gespielt von Sean Penn) an diese Zeit und versucht durch Erinnerungsarbeit mit seinem Leben ins Reine zu kommen. Allerdings gibt es innerhalb der Geschichte vieles, was offen bleibt, weil Etliches nur angedeutet wird, so etwa auch der Tod eines der Brüder in späteren Jahren. Und es für beinahe jede Wendung auch eine andere Erklärung geben könnte.

Dass Malick eine große Vorliebe für ausführliche Naturbeschreibungen hat, ist spätestens seit seinen magischen Bildern aus den 1970ern, bei denen sich Weizenfelder wie ein gigantischer roter Ozean im Wind wiegen, bekannt. In The Tree of Life wagt der Regisseur gar einen knapp halbstündigen Exkurs in die Welt der Elemente und zeigt dabei Bilder von erlesener Schönheit, die die Sequenz beinahe schon zu einem visuellen Drogentrip werden lassen. Bizarr geformte Felsformationen, Unterwasseraufnahmen, sich im Wind wiegende Sonnenblumenfelder, Vulkanausbrüche und andere Illustrationen der Mächte der Natur sind in Summe wahrscheinlich über die gesamte Laufzeit des Filmes länger im Bild zu sehen als die Menschen, deren Geschichte der Film erzählt.

Auch die Story, die die Basis für diese kontemplativen Exkurse bildet, lebt vor allem durch die Kraft der Bilder und deren Außergewöhnlichkeit. Es gibt kaum eine Einstellung, die nicht den besonderen Blick, das Detail, die dynamische Lösung sucht (und findet). Ständig ist die Kamera in Bewegung, schwebt zwischen den Menschen, schneidet die Personen an, springt dann wieder in Detailaufnahme oder extreme Weitwinkel, die von sorgfältig komponierten Landschaftstotalen abgelöst werden und formt so ein Bilderpuzzle von elegischer Eleganz, das beinahe so aussieht als habe man einen „stream of consciousness“ auf Filmmaterial gebannt. Darüber liegt auf der Tonebene ein Mix aus spärlichen Dialogen, die allenfalls rudimentäre Informationen über die Ereignisse liefern, einer ausführlichen Off-Erzählstimme, Naturgeräuschen und viel klassisch-sakraler Musik, häufig von einem Chor vorgetragen, die den getragenen Tonfall der Narration noch verstärkt.

Es besteht kein Zweifel: Für Terrence Malick ist das Kino ein pantheistischer Gottesdienst voll betörender Schönheit und Transzendenz, den man weniger mit dem Verstand als vielmehr mit dem (gläubigen) Herz erfassen und verstehen kann. Atheisten haben es freilich in diesem cineastischen Hochamt schwer: Für sie scheitert Malick mit seiner Feier des universellen Weltgeistes auf ähnliche Weise, wie dies Jahre zuvor Darren Aronofskys mit The Fountain widerfuhr. In dessen Film ging es um die Suche nach eben jenem Baum des Lebens, den Malick als Titel für sein Werk wählte. Es wäre durchaus interessant, nun nach der Erfahrung, die man mit The Tree of Life gemacht hat, The Fountain nochmal einer neuerlichen Sichtung zu unterziehen.

The Tree of Life ist ein durch und durch zwiespältiges Werk, das (zumindest streckenweise) ebenso fasziniert wie Rätsel aufgibt und mindestens zwei- drei- oder viermal gesehen werden muss, bis man sich einen Weg durch das Dickicht der Interpretationen und möglichen Lesarten geschlagen hat. Und selbst dann, in Diskussionen mit anderen, ergeben sich im Gespräch immer weitere Spuren und Hinweise oder wie Malicks Vorbild Martin Heidegger sagen würde, "Wege und Holzwege". Ein Film für Sinnsucher - und das durchaus im doppelten Wortsinne.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/the-tree-of-life