So weit und groß - Die Natur des Otto Modersohn (2010)

In seinen eigenen Worten...

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Dokumentarfilme über bildende Künstler gibt es viele. Und immer wieder kann man an diesen eines der Grundprobleme beobachten, dass im nicht-fiktionalen Bereich immer dann zum Tragen kommt, wenn die filmischen Quellen nicht genügend Material hergeben. Das sogenannte Reenactment, das Nachstellen von Szenen aus dem Leben mit Schauspielern, ist mittlerweile durch den inflationären und nicht immer geschickten Einsatz im Fernsehen (Stichwort: "Knoppisierung" oder "Histotainment") ein wenig in Verruf geraten. Was also tun, wenn der Porträtierte nicht mehr für Filmaufnahmen zur Verfügung steht? Carlo Modersohn hat mit So weit und groß – Die Natur des Otto Modersohn einen Film über seinen Urgroßvater gedreht, der auf jegliches aktuelle oder nachträglich hergestellte Material verzichtet und ausschließlich mit Originalquellen arbeitet – also mit Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Gemälden, Zeichnungen und Fotografien. Das verwandtschaftliche Verhältnis zum Protagonisten seines Filmes und die Beteiligung des Otto-Modersohn-Museums dürften hier einige Türen geöffnet haben, die anderen Filmemachern möglicherweise verschlossen geblieben wären. Vor allem dank der eindringlichen Erzählerstimme von Hanns Zischler gelingt das Experiment trotz der Beschränkungen und zeichnet das eindrückliche Bild einer Künstlerpersönlichkeit als "stream of consciousness" nach, bei dem freilich kritische Zwischentöne Mangelware bleiben. Mit zunehmender Dauer mangelt es dem Werk zudem ein wenig an der filmischen Dynamik - die selbst auferlegte Beschränkung auf Originalmaterial fordert ihren Tribut.

Vielfältig sind die Stationen im Leben des Malers Otto Modersohn. Und doch wird er vor allem stets im Zusammenhang mit dem Künstlerdorf Worpswede genannt, dessen Mitbegründer er war. Hier entstanden viele der für ihn typischen norddeutschen Landschaftsgemälde, die selbst jene, die seinen Namen kaum kennen, schon einmal gesehen haben dürften. "Mittwoch, 3. Juli 1889 kam ich mit F. Mackensen voller Erwartung hier an. Ich sah fast gleich, dass meine Erwartungen nicht getäuscht waren. Ich fand ein höchst originelles Dorf, das auf mich einen durchaus fremdartigen Eindruck machte; der hügelige sandige Boden im Dorf selbst, die großen bemoosten Strohdächer und nach allen Seiten, soweit man sehen konnte, alles so weit und so groß wie am Meer", notiert er in seinem Tagebuch, als er Worpswede zum ersten Mal besucht. Es ist der Beginn einer Phase seines künstlerischen Lebens, die seine prägendste und fruchtbarste werden wird.

Modersohn, der am 22. Februar 1865 im westfälischen Soest geboren wird, studiert an der Düsseldorfer Kunstakademie Malerei und wendet sich früh gegen seine akademischen Lehrmeister. Seien Arbeiten sind geprägt von einer tiefen Liebe zur Natur, vom Streben nach Einfachheit, Intimität und Innerlichkeit, er lässt sich von den französischen Freilichtmalern des 19. Jahrhunderts, der so genannten "Schule von Barbizon" ebenso inspirieren wie von den Impressionisten und von Vincent van Gogh. Chronologisch folgt der Film dem Leben und der künstlerischen Entwicklung Modersohns von den Anfängen als leidenschaftliches zeichnendes und malendes Kind bis zu den späten Jahren, die der Maler in Fischerhude und im Allgäu verbringt. Durch die Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und anderen Schriftstücke, die im Film viel Raum einnehmen, entsteht so der Eindruck eines nahezu hermetisch abgeschlossenen Künstlerlebens, in dem die Außenwelt nur wenig Platz hat. Die Schrecken des Ersten Weltkrieges, die unruhige Weimarer Republik, die Machtergreifung der Nationalsozialisten, die Modersohns Werk als "entartet" verfehmen – all das findet lediglich beiläufig statt und muss vor ausführlichen Episoden wie etwa der nicht unproblematischen Verbindung des Malers zu seiner zweiten Ehefrau Paula Modersohn-Becker zurückstehen. Das ist zwar durchaus verständlich und der Intention, eine Innenschau des Künstlers zu versuchen, zuträglich, verhindert aber an manchen Stellen die Einordnung in den Zeitkontext.

So lobenswert Carlo Modersohns Vorhaben und seine quellentreue Umsetzung auch ist: Mit der Zeit fallen die vielen Zooms auf Gemälde und alte Fotografien extrem auf und lassen das Ganze an einigen Stellen und mit zunehmender Dauer wirken wie einen überlangen und extrem aufwändig gestalteten Diavortrag, dem es unterm Strich dann doch ein wenig an der Dynamik fehlt. So ist So weit und groß vor allem ein Film für Kunstliebhaber und Modersohn-Experten. Wer als lediglich interessierter Kinozuschauer in diesen Film geht, der muss zumindest ein gehöriges Maß an Geduld mitbringen und die Bereitschaft, ein Kopfkino der eher ungewöhnlichen Art in Gang zu setzen.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/so-weit-und-gross-die-natur-des-otto-modersohn-2010