Babycall

Mutterliebe

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Angst ist Annas (Noomi Rapace) ständiger Begleiter. Um Schutz vor ihrem gewalttätigen Ehemann zu finden, zieht sie mit ihrem achtjährigen Sohn Anders (Vetle Qvenild Werring) unter Aufsicht des Jugendamtes in eine neue Wohnung. Sofort schließt sie alle Vorhänge, auch ihr Sohn darf nicht in seinem eigenen Zimmer schlafen, sondern muss bei ihr im Bett übernachten. Sie will ihn noch nicht einmal zur Schule lassen, weil sie befürchtet, ihr Ex-Mann könnte erneut versuchen, ihren Sohn zu töten. Übertreibt Anna mit ihrer mütterlichen Fürsorge? Oder schwebt Anders tatsächlich in Gefahr?
Geschickt spielt Regisseur Pål Sletaune in seinem Thriller Babycall mit verschiedenen Wahrnehmungsebenen. Anfangs übernimmt der Film Annas Perspektive, dadurch erscheint sie als Opfer. Doch dann stellen sich Zweifel ein: Nachdem Anna Anders auf Druck des Jugendamtes zur Schule gehen lässt, bleibt sie einfach auf dem Schulhof stehen und will warten, bis der Unterricht vorbei ist. Sie wird vom Direktor vertrieben, kann aber die Schule kaum aus den Augen lassen. Auch muss ihr immerhin achtjähriger Sohn stets ihre Hand halten. Dieses Verhalten scheint übertrieben, doch Anna wirkt gleichzeitig so verletzlich und verzweifelt bemüht, ein halbwegs normales Leben zu führen. Sie kauft sogar ein Babyfon, damit Anders in seinem Zimmer schlafen, sie ihn aber trotzdem jederzeit hören kann. Doch mit diesem Gerät zieht ein weiteres Grauen in Annas Wohnung. Fortan muss sie jeden Abend mit anhören, wie ein Kind gequält wird. Anscheinend hat einer ihrer Nachbarn in der anonymen Wohnsiedlung ein ähnliches Gerät, dessen Signal sie empfangen kann. Anna versucht herauszufinden, woher diese Schreie kommen. Sie will dem misshandelten Jungen helfen und Schlimmeres verhindern. Zugleich wächst aber ihr Misstrauen gegenüber sich selbst: Ist sie wirklich Zeugin einer Misshandlung – oder verliert sie den Verstand?

Die Zweifel an Anna werden genährt, indem mit dem Verkäufer Helge (Kristoffer Joner) eine zweite ambivalente Figur eingeführt wird. Anna lernt ihn beim Kauf des Babyfons näher kennen. Er betont stets, dass er Annas Sorge um ihren Sohn versteht und selbst sehr behütet aufgewachsen ist. Daher erscheint er als Annas einziger Verbündeter. Doch er hat ihr das Babyfon verkauft– und seine Beziehung zu seiner Mutter ist verdächtig. Mit dieser Figur legt Pål Sletaune also eine weitere Folie über die Wahrnehmung von Annas Verhalten: Zum einen verkörpert er die Folgen einer zu engen Bindung an die Mutter im Erwachsenenalter, zum anderen deckt er Widersprüche in Annas Verhalten auf. Durch seine Beobachtungen wird deutlich, dass Anna eine äußerst unzuverlässige Protagonistin ist, deren Einschätzungen und Wahrnehmungen nicht vertraut werden kann. Dabei kommt Helge Annas Geheimnis allmählich auf die Spur.

Ein Großteil der Spannung in Babycall entsteht durch den Verzicht auf eine verlässliche Hauptfigur, die noch dazu von Noomi Rapace überzeugend gespielt wird. Darüber hinaus spielt Drehbuchautor und Regisseur Pål Sletaune mit bekannten Genre-Motiven: Anders‘ Freund, der ihm sehr ähnlich sieht, erinnert an die Zwillinge aus Kubricks Shining; die Frau, die mit einem Kind zu einem See geht, und Menschen, die plötzlich verschwinden, erwecken Erwartungen und Ahnungen, die aber zuweilen unterlaufen werden. Somit ist Babycall im Vergleich zu Pål Sletaunes Horrorthriller Naboer, der als erster norwegischer Film in Norwegen eine Altersfreigabe von 18 Jahren erhalten hat, weitaus weniger radikal – und man ahnt recht schnell, was hinter allem steckt. Unterhaltsam ist dieser Thriller dank seiner Hauptdarsteller und dem Spiel mit den Wahrnehmungsebenen aber dennoch.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/babycall