Brownian Movement (2010)

Das weiße Rauschen

Eine Filmkritik von Lida Bach

Brownian Movement nimmt einen besonderen Platz auf der 61. Berlinale ein. Das Drama der niederländischen Regisseurin Nanouk Leopold ist der Film, der auf der ersten Vorab-Pressevorführung zum diesjährigen Festival gezeigt wurde. Der heimliche Eröffnungsfilm der Berlinale, mit dem die 2007 mit einer besonderen Erwähnung der Jury des Caligari-Preises bedachten Filmautorin das Forum-Programm beginnt, schwebt zischen hintergründigem Seelenbildnis und langatmiger Ziellosigkeit.

Brownian Movement ist ein stiller Film. Fast lautlos wie das physikalische Phänomen des Titels. Es bezeichnet das Sichtbarwerden einer plötzlichen entstehenden Bewegung von Partikeln. Willkürlich scheint auch die gefassten Medizinerin Charlotte (Sandra Hüller), die privat ein ruhiges Familienleben führt, sich in einem gemieteten Zimmer Männern hinzugeben. Doch die heimlichen Affären sind sorgfältig geplant. Ohne sich dessen bewusst zu sein wählt sie die Männer nach physischen Auffälligkeiten aus. Eine bizarre Passion für Deformierung wohnt in der mit einem attraktiven Partner (Dragan Bakema) zusammen lebenden Frau. In subtilen Momenten deutet Brownian Movement an, wie der diskrete Fetisch in Charlottes Familienleben dringt. Ihrem Sohn liest sie vor dem Einschlafen ein Märchen der Brüder Grimm vor. Das Mädchen ohne Hände heißt die wenig bekannte und erschreckend grausame Geschichte einer Tochter, der ihr eigener Vater die Hände abhackt, die verlassen und verstümmelt durch die Welt wandert und nach einem kurzen Glück gemordet werden soll. Eine gespenstische Gute-Nacht-Geschichte für einen kleinen Jungen, die Charlotte vielleicht mehr für sich selbst vorliest.

Das zurückgenommene Charakterporträt gibt sich so verschwiegen wie die Hauptfigur Nanouk Leopolds. Bewusst verzichtet die Regisseurin und Drehbuchautorin auf eine eindeutige Erklärung von Charlottes Verhalten. Es kommt zu keiner klärenden Aussprache oder verbalen Versöhnung zwischen ihr und ihrem Partner. Der Vater von Charlottes kleinem Sohn spürt, dass seine Frau sich von ihm entfernt. Er versucht sie zu halten und kann es doch nicht. Charlotte selbst scheint die Entfremdung zu verdrängen. Erst als sie es wörtlich ausspricht wird ihr bewusst, wie fern sie ihrer Familie, ihrem Leben, ja sich selbst geworden ist. Liegt in dieser Selbstentfremdung der Schlüssel zu der titelgebenden "Braun'schen (Molekular)Bewegung"? Ihr Verhalten erinnert an das einer multiplen Persönlichkeit. Als ein Liebhaber sie im Alltag anspricht, reagiert sie geschockt und urplötzlich gewalttätig. Nach dem Ausbruch verliert sie das Bewusstsein und kommt erst im Krankenhaus wieder zu sich. Die Symptome sind typisch für multiple Persönlichkeiten. Doch Charlotte erinnert sich an ihre Affären und hat deren geheime Umstände sorgfältig geplant. In einer Gerichtsverhandlung wird die Medizinerin nach dem Angriff auf einen der Sexualpartner für berufsuntauglich erklärt. Ob die Protagonistin jedoch psychisch krank oder emotional zwischen zwei Existenzen hin- und her gerissen ist, bleibt im Dunkeln.

Unterkühlt, fast eisig wirkt die junge Medizinerin nach Außen. Sogar während ihrer Affären verhält sich Charlotte leidenschaftslos. Brownian Movement ist keines der konventionellen Liebesdramen über eine emotional unterdrückte Familienmutter, die ein sexuelles Doppelleben führt. Das in konzentrierten Planszenen gefilmte Charakterporträt studiert die Oberfläche einer tief in sich gekehrten Persönlichkeit, ohne sie je zu durchdringen. Sandra Hüllers subtile Darstellung verleiht dem ambivalenten Werk einen frostigen Glanz. Doch auch ihr nuanciertes Spiel kann eine Figur nicht gänzlich ausfüllen, die nach dem Willen der Regisseurin scheinbar unergründlich bleiben soll. In klaren, lichten Bildern und begleitet von zarter Musik erzählt Brownian Movement von dem psychologischen Phänomen einer auf den ersten Blick gewöhnlichen Frau. Der allererste der Berlinale-Filme gleicht einer realen Brownschen Bewegung. Staub, der in einem Sonnenstrahl wirbelt, ist eine solche. Sie fesselt das Auge für einen flüchtigen Moment, dann sucht der Blick nach dem nächsten Reiz.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/brownian-movement-2010