Rockabilly Ruhrpott

"One, two, three, four five - Rock 'n' Roll is still alive"

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Das wahre Herz des Rock 'n' Roll schlägt nicht in Memphis, Tennessee, sondern im Ruhrgebiet. Was sich zuerst wie eine reine Marketing-Plattitüde des Fremdenverkehrsverbandes Rhein-Ruhr anhört, hat bei näherer Betrachtung einiges an Wahrheitsgehalt, wie Christin Feldmanns und Claudia Bachs Dokumentarfilm Rockabilly Ruhrpott verdeutlicht. Wie Ethnologinnen sind die beiden tief in die weit verzweigte Subkultur der Rockabillys und Teddy Boys eingetaucht und zeichnen das Porträt einer Szene mitsamt ihren Dresscodes und Verhaltensmustern, ihre Vorlieben und Treffpunkten, ihren Wertvorstellungen und all dem, was sonst noch dazu gehört.
Warum die Rockabillys ausgerechnet im Ruhrgebiet so stark vertreten sind, dass der Ruhrpott als Zentrum der Bewegung gilt, ist gar nicht so leicht auszumachen: Zum einen ist es vermutlich die schiere Größe der Region, die knapp 5 Mio. Bewohner zählt und die sich trotzdem stets einen familiären Charakter bewahrt hat. Hier ist es nicht selten, dass Oma und Opa selbst früher Petticoats und Schmalztollen trugen. Eine gewisse Verbundenheit zu wertkonservativen Vorstellungen wie Zusammenhalt, Solidarität und Echtheit (neudeutsch "Authentizität" genannt), wie man sie um Ruhrgebiet immer wieder antrifft, dürfte ein idealer Nährboden für die Szene sein.

Wie die Rockabillys aussehen, was sie auszeichnet und bewegt, woher ihre modischen Vorlieben und musikalischen Wurzeln kommen, das erklären die Protagonisten in Rockabilly Ruhrpott stets selbst oder führen es am liebsten und oft mit ziemlichem Stolz vor: Die Haare stets mit Hilfe von viel Pomade zu einer abenteuerlichen Tolle geformt und oft mit breiten Koteletten oder einem schmucken Backenbart geziert, dazu die unvermeidlichen und immer hochgekrempelten Jeans, Creeper-Schuhe mit dicken Kreppsohlen oder Working Boots, Lederjacken, dazu breite Ami-Schlitten aus den 1950ern und 60ern sowie die notwendigen Accessoires wie die zu Ikonen gewordenen Würfel, Pinups, Hot-Rods oder Billardkugeln (8-Ball) – das zeichnet neben der Vorliebe für die wilde Musik der 1950er einen echten Rockabilly aus. Etwas anders sind die Teddy Boys, die gewissermaßen das britische und entschieden aristokratischere Pendant zu den amerikanischen Rockabillys bilden: Sie tragen zwar die Haare ebenfalls gerne in pomadisierten Tollen, doch sie bevorzugen Gehröcke aus der Zeit des britischen Königs Edward VII., der von 1901 bis 1910 regierte – von einer Koseform seines Namens stammt auch der Begriff Teddy. Daneben, so erfährt man ganz nebenbei im Laufe der Gespräche gibt es noch die "Psychs", also die Psychobillys, mit denen es früher regelmäßig Stress gab, die man aber heute zumindest akzeptiert.

Überhaupt erscheint die Szene wie eine einzige große und weit verstreute Familie: Zu Treffen und Konzerten kommen Rockabillys schon mal aus Frankreich, Dänemark oder Norwegen ins Ruhrgebiet, neben "Übriggebliebenen", die Elvis bei seiner Militärzeit in Deutschland selbst hätten live erleben können, sind es vor allem (überwiegend männliche) Fans mittleren Alters und einige jüngere, die die Fackel des echten Rock 'n' Roll hochhalten. Erfreulich, dass es relativ wenig Nachwuchsprobleme gibt - dank Interessierter aus den Hot Rod-Szene, die sich neben ihrem Interesse an aufgemotzten, großvolumigen V8-Hemis amerikanischer Herkunft bald auch für den dazugehörigen Lifestyle interessieren.

Viele der Interviewten, so enthüllt der Film erst nach und nach, sind Musiker – leben können nur die wenigsten von ihrem Hobby. Dazu ist die Szene mit mehreren tausend Mitgliedern deutschlandweit zu klein. Vielleicht liegt aber auch darin das Erfolgsgeheimnis der Rockabillys aus dem Pott: Wie eine weit verzweigte und harmonische Familie erscheinen sie, der Kommerz, der andere Subkulturen systematisch unterhöhlt, hat in solch einem Gebilde kaum eine Chance.

Andererseits wirkt das Rebellentum früherer Jahre, als die Rockabillys als "halbstarke Rabauken" galten und die Teddy Boys in Großbritannien einen wirklich üblen Ruf hatten, mittlerweile genauso angegraut wie die Tollen mancher wilder Kerle und diese dadurch (mit Verlaub) vergleichsweise gezähmt. Angst muss heute wirklich niemand mehr vor den einstigen Spießbürgerschrecken haben – aber das ist ja auch nicht das Schlechteste. Selbst wer unpassend gekleidet bei einem Konzert der eingeschworenen Gemeinschaft erscheint und mit großen Enthusiasmus bei der Sache ist, wird heute nicht sehr schief angeguckt, sondern freundlich aufgenommen. Sie sind eben in die Jahre gekommen, die Rüpel von einst und benehmen sich dementsprechend gesittet. Was man wahrlich nicht von jeder Subkultur behaupten kann.

Technisch ist der Film nicht immer perfekt: Da sieht man hier und da mal ein Mikro ins Bild hängen und mitunter vermisst man just jene Dynamik bei den Kameraeinstellungen, die den vorwärtstreibenden Rhythmus der Musik kongenial ergänzen würde. Dem Spaß an den Begegnungen tut dies aber keinen Abbruch, an manchen Stellen fühlt man sich sogar genau durch diese Haltung in die Lage eines Ethnologen versetzt, der das Leben eines bis dahin von der Moderne weitgehend abgeschotteten Stammes dokumentiert. Von den Wurzeln der Bewegung über ihre historische Entwicklung und die Wiederbelebung in den späten 1970ern und frühen 1980ern bis ins Hier und Heute spannt sich der Bogen und gibt insgesamt einen guten Überblick über die Traditionen, aus denen sich die Bewegung speist.

Vielleicht liegt es an der Kürze von Rockabilly Ruhrpott (der Film dauert gerade mal 60 Minuten und wird deshalb zusammen mit dem Kurzfilm Grey Hawke im Kino gezeigt), dass kaum Platz für tiefergehende Nachforschungen über die Sehnsüchte der Protagonisten nach einer vermeintlich heilen Zeit und konservativeren Rollenbildern bleibt, die der Rasanz der Gegenwart eine trotzige Nostalgie entgegensetzen. So ist der Film vor allem eine sympathische Bestandsaufnahme einer Szene, der es gelungen ist, ihren familiären Charakter und damit eine gewisse Nestwärme gegen all Zeitströmungen zu behaupten. Und wahrscheinlich liegt genau hierin das Geheimnis, warum die Rockabillys und Teddy Boys vom Ruhrpott bis heute überlebt haben.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/rockabilly-ruhrpott