Abendland

"Call me, I speak English"

Eine Filmkritik von Lena Kettner

Es gibt einen Flecken auf dieser Erde, auf dem paradiesische Zustände herrschen - klimatisch begünstigt und bevölkert von Menschen, die den Wert der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen zu schätzen wissen. Dort lebt man in Sicherheit und Reichtum und niemand muss verhungern oder politische Verfolgung fürchten. Das zumindest glauben diejenigen, denen ein elektronischer Zaun den Zutritt zu diesem Paradies verwehrt.
Europa, die Wiege der Kultur – zumindest was das historische Selbstverständnis des Kontinents angeht. Ein Raum, der im 21. Jahrhundert auf geographischer, nicht jedoch auf kultureller, sprachlicher und sozialer Ebene zusammengewachsen ist. In seinem neuen Dokumentarfilm Abendland wirft der österreichische Regisseur Nikolaus Geyrhalter einen distanziert-kritischen Blick auf eine entfremdete westeuropäische Zivilisation. Dazu begibt sich Geyrhalter auf eine große assoziative Reise durch das nächtliche Europa und entlarvt in der Dunkelheit der Nacht die Schattenseiten der pulsierenden Dienstleistung- und Wohlstandsgesellschaft.

Szenen in Geburtskliniken, Krankenhäusern, Altersheimen, hedonistischen Vergnügungstempeln und Auffanglagern für gestrandete Asylanten alternieren mit dem Sprachgewirr der Übersetzer im EU-Parlament, mit der ratternden Hin- und Herbewegung von Sicherheitskameras und mit der anmutigen Stille auf dem Petersplatz während einer Rede von Papst Benedict XVI. Abendland geht in seinem Ansatz weit über einen Dokumentarfilm hinaus, der die Schwierigkeiten und Herausforderungen der Nachtarbeit beleuchtet. Das impliziert bereits der doppeldeutige Titel dieses filmischen Essays, der die historische Idee des Abendlands als der überlegenen Kulturform in Frage stellt. In langen Einstellungen entwirft der Regisseur das Bild eines Europas, das nach außen hin einer Festung gleicht, nach innen hin aber seinen privilegierten Bewohnern Schutz bietet.

Bereits in seinem Dokumentarfilm Unser täglich Brot zeigte Nikolaus Geyrhalter eine surreale Welt aus sterilen Räumen und industrieller Architektur, entwickelt für schnelle und effiziente Arbeitsabläufe – mitten im heutigen Europa: die Welt der Nahrungsmittelproduktion als Spiegelbild eines modernen Wertekanons, entmenschlicht und materialisiert. Auch in seinem Film Abendland haben die Maschinen den Menschen zu ihrem Erfüllungsgehilfen gemacht, ob in der Sicherheitsfirma, in der Brathähnchen-Bude oder selbst im Altersheim. Quälend sind die genau kadrierten Plansequenzen, die an keiner Stelle von Interviews unterbrochen werden, für den Zuschauer. Die Kamera lenkt den Blick auf das, was man am liebsten nicht sehen möchte: auf Frühchen, kurz nach der Geburt in ihrem Brutkasten. Auf einen illegalen Einwanderer, dem eine Beraterin in einem Auffanglager glaubwürdig vermitteln will, dass er in Würde in seine Heimat zurückkehren kann. Auf eine Prostituierte, die halbnackt vor der Kamera posiert und dazu ein "Call me, I speak English"- Schild in die Luft hält. Auf eine Beratungsstelle für Suizidgefährdete. Die meisten dieser Orte sind austauschbar, stehen symbolhaft für eine Entwicklung, die in vielen Ländern Europas beobachtet werden kann. Trotz der schonungslosen Darstellung dieser verstörenden Realität sind Geyrhalters Bilder nie voyeuristisch, stellen nicht die Menschen, sondern das System hinter ihnen bloß. Geyrhalters Kamera bleibt während gesamten Film über in der Beobachterposition. Seine weiten, offenen Bilder kontrastieren mit den Aufnahmen der Überwachungsmonitore, die als funktionelle Kameras zielgerichtet eingesetzt werden und somit nur einen kleinen Ausschnitt der Realität vermitteln können.

"Manche Dinge sieht man in der Nacht klarer", lautet der Untertitel und gleichzeitig das Motto des Films. Nikolaus Geyrhalter ist es mit Abendland gelungen, das Porträt eines Europas zu zeichnen, das in der Nacht seine hässliche und erschreckende Seite zeigt. Ein Europa, in dem Menschen und Maschinen ersetzbar sind und in dem jede Nacht monoton Dienstleistungen erbracht werden. Ein Europa, in dem die einzelnen Länder immer mehr zusammenwachsen, das soziale Gefüge aber immer weiter auseinanderfällt. "Wer im Paradies lebt, muss gut darauf aufpassen", sagt Nikolas Geyrhalter in einem Statement zu Abendland. Sonst vertreibt der Schatten der Nacht das Licht dieses Paradieses.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/abendland