Die Einsamkeit der Primzahlen

Über die Wunden der Kindheit

Eine Filmkritik von Katrin Knauth

Wenn ein Film die Einsamkeit schon im Titel trägt, dann liegt es nahe, dass seine Protagonisten von Alleinsein, Verlassenheit und Menschenscheu geprägt sind. Traurigkeit, Enttäuschung und Schmerzen gehören meist auch dazu. Nicht anders ist es in Saverio Costanzos (Private, Memory of Myself) dritten Spielfilm Die Einsamkeit der Primzahlen. Basierend auf dem gleichnamigen Bestseller von Paolo Giordano erzählt der Film mit dem Schicksal von Alice und Mattia zwei unabhängige Adoleszenzgeschichten, die sich näher kommen, aber nie ganz vereinen.
Schicksal Nummer eins: Alice (Alba Rohrbacher), Tochter einer depressiven Mutter und eines überehrgeizigen Vaters, verunglückt in ihrer Kindheit beim Skifahren. So schwer, dass der Rest ihres Lebens durch Humpeln und Misstrauen zu anderen Menschen gekennzeichnet ist. Erniedrigungen in der Schulzeit, ein schwieriges Verhältnis zu den Eltern, Zurückgezogenheit, Magersucht – jede noch so kleine Station ist von dem Unfall in der Kindheit geprägt.

Schicksal Nummer zwei: Mattia (Luca Marinelli) ergeht es nicht besser. Auch er erlebt in seiner Kindheit eine Tragödie, die sein ganzes Leben vermasselt. Eingeladen zur Geburtstagsfeier eines Klassenkameraden, lässt er seine behinderte Zwillingsschwester allein im Park zurück. Sie verschwindet für immer. Mattia, der auf sie aufpassen sollte, gibt sich die Schuld und vergibt sich nie. Er schneidet sich Arme und Beine auf, verschließt sich und flüchtet sich in die Mathematik.

Alice und Mattia begegnen sich zum ersten Mal in der Schule. Sie sind die Außenseiter unter ihren Mitschülern. Vom ersten Tag an verbindet sie ein unsichtbares Band, scheinbar magisch, als würden sie in dem anderen die eigene Einsamkeit wieder erkennen. Sie treffen sich immer wieder im Leben, sind sich innerlich nahe, aber körperlich fern. Ihre Freundschaft basiert auf der geteilten, aber nicht ausgesprochenen Erfahrung von Schmerz.

Die komplexen Lebensgeschichten, die sich über zwanzig Jahre erstrecken, werden zunächst auf drei (Kindheit, Schulzeit, Berufsleben) Zeitebenen erzählt. Später kommt noch eine vierte Zeit hinzu. Der Film springt zwischen den Zeiten hin und her, bleibt jedoch so strukturiert dabei, dass man sich als Zuschauer nicht darin verliert. Es ist sogar der Film selbst, der dem chaotischen (Innen-)leben seiner Protagonisten Struktur und damit auch den einzelnen Halt gibt.

Kindheitstraumata, verpfuschtes Leben. Die Tragik dieser beiden Menschen ist unendlich groß. Wer trägt die Schuld? Eine traurige Antwort liegt auf der Hand: Die eigenen Eltern haben das Leben ihrer Kinder zerstört. Was noch viel schlimmer ist, sie haben es bei vollem Verstand getan und dennoch waren sie sich ihrer Handlungen nicht bewusst. Alices Vater hätte einsehen müssen, dass bei starkem Nebel Skifahren lebensgefährlich ist. Mattias Eltern (Mutter: Isabella Rossellini) hätten nie die ganze Verantwortung ihrem Sohn übertragen sollen, auf seine geistig behinderte Schwester aufzupassen.

Die Romanvorlage von Paolo Giordano hat seit Erscheinen im Jahr 2008 Millionen von Leser in ihren Bann gezogen. Giordano, Doktorand der Physik, erhielt mit damals 26 Jahren als jüngster Autor den wichtigsten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega. Er erreichte in weniger als einem Jahr eine Auflage von über einer Million und beherrschte Bestsellerlisten. Der Spiegel wählte ihn zu einem der 25 lesenswertesten Romanen des Jahres. Giordano hat offenbar ein Thema gefunden, mit dem er seine Leser mitten ins Herz getroffen hat.

Jeder, der eigene Kinder hat, kann sich nun selbst die Frage stellen, ob man den Kleinen manchmal nicht etwas zuviel abverlangt, sie mit ihren Aufgaben überfordert. Es sind nicht immer nur drogenabhängige, alkoholsüchtige Eltern, die ihre Kinder verantwortungslos behandeln. Nicht das Offensichtige ist immer das Verstörende, sondern auch das, was sich hinter der Fassade oder gar in unserem Unbewusstsein abspielt. Der geniale Film von Costanzo rüttelt uns mit diesem Thema auf. Und ja, er macht verdammt traurig: In jeder einzelnen Minute von insgesamt 118 Filmminuten. Und noch lange danach.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-einsamkeit-der-primzahlen