Endstation Seeshaupt

Freitag, 30. Januar 2015, ARD-alpha, 20:15 Uhr

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Weit über achtzig Jahre alt ist er mittlerweile, und seit mehr als dreißig Jahren unternimmt der in Beverly Hills lebende Louis Sneh regelmäßig eine Pilgerreise ganz besonderer und persönlicher Art zum Bahnhof des oberbayerischen Dorfes Seeshaupt, fotografiert diesen mit Erinnerungen behafteten Ort und zelebriert auf diese Weise ein markantes Ereignis in seinem Leben, das er seinen zweiten Geburtstag nennt. Denn an diesem Bahnhof wurde der in Ungarn aufgewachsene Jude, der von den Nationalsozialisten in Konzentrationslager nach Auschwitz und später Dachau deportiert wurde, am 30. April 1945 im Alter von siebzehn Jahren durch US-amerikanische Soldaten aus einem Zug befreit, in dem er seit fünf Tagen gemeinsam mit circa 4000 weiteren ehemaligen KZ-Häftlingen – Kindern, Frauen und Männern – ohne Nahrung erbärmlich eingepfercht war.
Mit konkreten Bezügen zur Gegenwart widmet sich Endstation Seeshaupt von Walter Steffen diesem Ereignis gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, mit dem die grausame, elendige Fahrt der als Todeszug bezeichneten Güterwaggons für Louis Sneh und zahlreiche weitere Menschen nach Tagen der unermesslichen Qual in ihre Befreiung mündete, während viele Andere diese nicht überlebten oder bald an den fürchterlichen Folgen starben. Im Rahmen der Dreharbeiten hat sich Louis Sneh erneut auf die Strecke dieser einst so schrecklichen Reise begeben und stellt sich dort seinen traumatischen Erinnerungen an diese Leidenszeit, die von den bestialischen Verbrechen des täglichen Terrors der Nationalsozialisten zeugen. Auch der Autor und Künstler Max Mannheimer, der den Horrortrip damals trotz Typhus überlebte und sich bis heute nachhaltig für die Aufklärung des Grauens der NS-Zeit engagiert, berichtet von seinen damaligen Erlebnissen – ebenso wie weitere Zeitzeugen, die sich an den geradezu gespenstischen Zug und an seine von Hunger, Krankheit, Angst und Verzweiflung gezeichneten Gefangenen erinnern, die mit unbestimmtem Ziel noch rasch vor den Blicken der nahenden Alliierten und der Weltöffentlichkeit verborgen werden sollten.

Der gleichermaßen notwendige wie mutige Brückenschlag dieser düsteren Geschehnisse zur Gegenwart ereignet sich dann, wenn Walter Steffen, der selbst in Seeshaupt lebt, die keinesfalls überall beliebte aktuelle Auseinandersetzung von Schülern und anderen Anwohnern des Dorfes mit dieser schwelenden Thematik porträtiert. Wider das Vergessen und für eine versöhnlich orientierte Bewältigung im Sinne Louis Snehs und Max Mannheimers ist es Endstation Seeshaupt in seiner schlichten, unspektakulären und doch zutiefst bewegenden Form gelungen, Bilder und Worte der konstruktiven Erinnerungsarbeit zu finden, zu welcher der Film einen respektablen Beitrag mit pointiertem regionalen Bezug beigesteuert hat.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/endstation-seeshaupt