Miss Bala (2011)

Aus dem Land der verlorenen Unschuld

Eine Filmkritik von Patrick Wellinski

Die Ausgangsidee für Gerardo Naranjos Film Miss Bala, dem diesjährigen Oscarkandidaten Mexikos, ist denkbar einfach. Es ist die ewige Kinogeschichte vom Verlust der Unschuld eines gewöhnlichen Menschen, vom verfolgten Unbeteiligten. Also einer Figur, die eines Tages aus dem Haus geht, zufällig in ein gefährliches Geschehen stolpert und sich mit Kräften konfrontiert sieht, die sie aus den gewohnten Bahnen werfen.

Genau das passiert Laura Guerrero (Stephanie Sigman). Die hübsche 23-jährige lebt mit ihrem Bruder und Vater in Tijuana. Ein hartes Leben an der Grenze zur Armut. Aber Laura hofft die Wahl zur Miss Baja zu gewinnen. Als Schönheitskönigin könnte sie genug Geld verdienen, um der Familie eine bessere Zukunft zu sichern. Sie wird nominiert. Alles läuft nach Plan. Doch dann besucht sie mit ihrer Freundin eine Disco. Wenige Augenblicke später fallen Schüsse, Leichen werden in ein Auto geschleppt, Lauras Freundin ist weg, Laura sucht, begeht einen Fehler und gerät in die Fänge eines Drogenkartells. Aus der angehenden Miss Baja wird so gezwungenermaßen eine Miss Bala (also "Miss Bullet").

Mit dem Discobesuch fällt der Startschuss zu diesem Actionfilm, der den Begriff Action herrlich wörtlich nimmt. Alles ist ständig in Bewegung. Laura, die Gangster, die Polizei, Autos, Körper, Pistolenkugeln - alles fliegt durch das Bild. Es wird gerannt, geschrieen, geschossen und auf das Gaspedal gedrückt. Bei all der Beschleunigung hält Regisseur Naranjo alle Fäden sorgfältig in der Hand und behält damit auch den Überblick über die Situation. Es gelingt ihm das Kunststück, eine chaotische Grundstimmung zu erzeugen, ohne dabei Chaos im Bildkader zu inszenieren. Damit unterscheidet er sich wohltuend von ähnlichen Werken wie zum Beispiel Iñárritus Amores Perros. Indem sich die Kamera hinter Laura klemmt und sie fast schon resigniert dabei beobachtet, wie das Mädchen sich schuldig macht, um ihre eigene Haut zu retten, wird die Ausweglosigkeit des Geschehens deutlich greifbar. In Miss Bala geht es damit nicht primär darum, ob Laura die Flucht aus den Fängen der Drogenbande gelingt oder nicht. Es geht hier viel mehr um das Inszenieren einer Stimmung, die einer desperaten Handgeste entsprechend zu sagen scheint: Schaut euch das an, so ausweglos ist es in Mexiko.

Es liegt an der wirkungsvollen Kombination aus konzentrierter Regie, dem wunderbar natürlichen Spiel der Debütantin Sigman und den dynamisch pulsierenden Bildern des Kameramanns Mátyás Erdély (Stammkameramann des ungarischen Autorenfilmers Kornél Mundruczó), dass sich Miss Bala sehr ernsthaft und glaubhaft der Grundstimmung des heutigen Mexikos annähert. Dabei umgeht der Film Mexiko-Klischees und Stereotype wie sie unter anderem Erick Zonca in Julia inszenierte. Je hoffnungsloser Lauras Situation zu werden scheint, desto stärker suchen wir nach der Rettung, nach Hilfe. Dazu schweift unser Blick auf die Passanten, Verkäufer, Taxifahrer, die Julias Weg kreuzen. Was könnten sie tun? Wie helfen, ohne das eigene Leben zu riskieren? Und warum sollten sie überhaupt eingreifen? Hat Laura nicht längst ihre Chance auf Rettung verspielt?

Wahrscheinlich manifestiert sich der Sog dieses Films am besten in seinem Ende. Und selbstverständlich fällt es jeder Rezension schwer über den letzten Teil eines Films zu sprechen, ohne dabei in die böse Spoiler-Falle zu tappen. Im Falle von Miss Bala sei vielleicht nur so viel gesagt: Der Film schraubt seine Schicksalsspirale gegen Ende in immer abenteuerlichere Dimensionen. Er streift damit gefährlich nah die Grenze des Unglaubhaften. Wobei: warum sollte uns ein Film ein plausibles Ende präsentieren, wo doch die reale Lage Mexikos mittlerweile derart unwirklich erscheint? Der Lichtblick in der letzten Einstellung ist deshalb auch gar keiner, und die allgemeine Hoffnung auf ein besseres Leben ist liegen geblieben, irgendwo in den staubigen Straßengräben Tijuanas, zersplittert, wie Lauras Träume.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/miss-bala-2011