Michael

Hinter verschlossenen Türen

Eine Filmkritik von Festivalkritik Cannes 2011 von Joachim Kurz

Wie kann man das Unaussprechbare, das Grauen, das in unser Mitte wohnt, die "Fälle" und "Medienereignisse" Natascha Kampusch oder Joseph Fritzl überhaupt in Bilder fassen? Wie kann man dem Schrecken beikommen, ohne indiskret, voyeuristisch, sensationsheischend zu sein?
In seinem kühlen beobachtenden Film Michael hat der österreichische Regisseur Markus Schleinzer genau die richtigen Bilder für seine monströse Geschichte gefunden. Klar, sachlich, kühl und mit dem Mut zur Auslassung erinnert sein Film an die Werke Michael Hanekes, bei denen sich ebenfalls das Grauen, das Böse oftmals außerhalb des Bildraumes abspielt. Dennoch lässt der Film keinerlei Zweifel daran, dass wir gerade Zeuge des fortgesetzten Martyriums eines Kindes sind, das von eine Mann fortwährend sexuell missbraucht wird. Die Beklemmung, die die Bilder transportieren, ist trotz (oder vielmehr vermutlich wegen) der Auslassungen ungeheuer intensiv und wirkungsvoll und sorgt für ein permanentes Unbehagen, das einen nicht mehr loslässt. Weil die nicht gezeigten Bilder bis hin zum zutiefst erschütternden Ende, Bilder im Kopf des Zuschauers in Gang setzen, deren Sogkraft man sich nicht entziehen kann. Und selbst wenn es einem gelingen sollte, die Bilder Schleinzers zu vergessen, die eigene Bildmaschine im Kopf wird man so schnell nicht mehr zum Anhalten bringen.

Es dauert lange, bis man herausfindet, wessen Name dem Drama eigentlich den Titel gibt. Ist es der etwa zehnjährige Junge (David Rauchenberger), der im Keller eines Einfamilienhauses hinter einer verschließbaren blauen Tür seit unbestimmter Zeit festgehalten wird? Oder ist es dessen Peiniger (Michael Fuith), ein alleinstehender Versicherungsangestellter, der so bieder und spießig ist, wie man es sich nur vorstellen kann? In der Geschichte spielen Namen keine Rolle - und in der Verbindung zwischen dem Jungen und dem Erwachsenen erst recht nicht. Weil Namen Nähe spenden. Und die gibt es in dieser Zwangsbeziehung nicht, kann es in ihr nicht geben. Für Michael (es ist der Name des Pädophilen, wie wir später erfahren), ist der Junge kaum ein Mensch, sondern vor allem ein Gegenstand - sein Umgang mit dem Kind ist bar jeder Wärme oder Anteilnahme, fast geschäftsmäßig und dann wieder von einer völlig unpassenden Albernheit, die das Grauen nur noch weiter verstärkt.

Vielleicht ist es ja dieses Unbehagen, dieser Appell an die Bilder im eigenen Kopf, der dafür gesorgt hat, dass die Reaktionen auf Michael bei dessen Premiere beim Filmfestival von Cannes sehr gemischt ausfielen - neben einigen Buhrufen (leider ist diese Unsitte auch in Cannes weit verbreitet, gab es aber auch stehende Ovationen für den Debütfilm Schleinzers, der bislang vor allem als Caster (unter anderem für Michael Hanekes Das weiße Band) gearbeitet hatte. Dessen Einfluss ist dem Film zwar deutlich anzumerken, doch der Film verfügt über genug eigene Kraft und emotionale Tiefe (an zwei oder drei Stellen blitzt sogar ganz kurz grimmiger Humor auf), um auch im Kino seine verheerende Wirkung zu entfalten.

(Festivalkritik Cannes 2011 von Joachim Kurz)

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/michael