Verblendung (2011)

David Finchers zweiter "Zodiac" – ein Remake als Einverleibung

Eine Filmkritik von Christian Horn

Die posthum veröffentlichte Millenium-Trilogie des Schweden Stieg Larsson zählt fraglos zu den größten Bestsellern der letzten Jahre – dementsprechend erfolgreich liefen die drei schwedischen Kinoadaptionen Verblendung, Verdammnis und Vergebung in den Lichtspielhäusern. Dass Hollywood nun kaum zwei Jahre nach diesem Erfolg ein Remake ins Rennen schickt, würde wohl für weit mehr Häme und Kritik sorgen, wäre es nicht ausgerechnet David Fincher, der den Stoff neu inszeniert: Die düstere Thrillervorlage scheint wie gemacht für den Regisseur von Filmen wie Sieben, Zodiac - die Spur des Killers oder The Social Network, weswegen das Projekt seit Bekanntgabe der Mitwirkenden auf reges Interesse stößt. Trotzdem muss auch ein auf dem Papier so geeigneter Neuverfilmer wie David Fincher den Film erst einmal realisieren, wobei im Verlauf des Entstehungsprozesses mehr als genug daneben gehen kann; schließlich war auch Tim Burton auf den ersten Blick der perfekte Kandidat für Alice im Wunderland und enttäuschte mit dem Ergebnis bitter. Doch im Fall von Verblendung geht alles gut: In der Tat gelingt Fincher mehr als nur ein budgettechnisch aufgemotztes und amerikanisiertes Remake, nämlich nichts weniger als eine vollständige Aneignung des Originals.
Weil der Journalist Michael Blomkvist (Daniel Craig) die in seiner Zeitschrift Millenium erhobenen Anschuldigungen gegen den Unternehmer Wennerström vor Gericht nicht hinreichend beweisen kann, gerät er in die öffentliche Kritik und muss eine Geldstrafe zahlen, die seine kompletten Geldreserven frisst. Eigentlich will Blomkvist nach dieser Schlappe eine Auszeit nehmen, doch bald erhält er einen lukrativen Auftrag: Der schwedische Industrielle Henrik Vanger (Christopher Plummer) engagiert den begabten Ermittler, um den lange in der Vergangenheit liegenden Mord an seiner damals 16-jährigen Großnichte Harriet aufzuklären, die im Sommer 1966 spurlos verschwand. Für Vanger steht fest, dass einer der zwielichtigen Verwandten hinter dem Verbrechen steckt und als Blomkvist die Recherche auf der als Familienanwesen dienenden Insel aufnimmt, erscheint diese Einschätzung zunehmend plausibel: Etliche dunkle Familiengeheimnisse von Antisemitismus bis Vergewaltigung kommen ans Tageslicht.

Wie im Original entwickelt David Fincher die zweite Hauptfigur Lisbeth Salander in einer Parallelhandlung als vom Leben gezeichnete, überaus talentierte Privatermittlerin und Hackerin. Im Vergleich zur Lisbeth der ersten Adaption (Noomi Rapace) erscheint die von Rooney Mara glänzend verkörperte Figur weiblicher und zerbrechlicher, wenngleich sie durchaus bestimmt auftritt und die sadistische Vergewaltigung durch ihren Sozialarbeiter weit brutaler rächt als in der Variante des dänischen Regisseurs Niels Arden Oplev. Erst nach mehr als einer Stunde Laufzeit führt der 158-minütige Film die beiden Protagonisten schließlich zusammen. Anstelle einer zugelaufenen Katze leistet nun Lisbeth Salander dem Journalisten Blomkvist Gesellschaft und bringt die Nachforschungen mit ihrem messerscharfen Verstand ein gutes Stück weiter. Wie das Mordopfer und beinahe alle Mitglieder des Vanger-Clans könnte auch die 23-jährige Lisbeth eine von Tyler Durden in Fight Club getroffene Aussage unterschreiben, die einen wichtigen erzählerischen Fixpunkt von Finchers Kriminalthriller und den übrigen Filmen des Hollywood-Auteurs beinhaltet: "Wir sind ohne Väter groß geworden."

Verblendung erinnert stark an Finchers oftmals unterschätztes Meisterwerk Zodiac – und das nicht nur, weil auch dort die Suche nach einem Serienkiller im Fokus steht. Beide Thriller eint die atmosphärisch absolut dichte, detailverliebte und Fincher-typisch unterkühlte Inszenierung mit ihren tristen, blaugrauen Bildern sowie die konzentrierte Erzählweise, die versiert Spannung aufbaut und zielsicher auf einige kraftvolle Suspense-Momente und Gewalteruptionen hinarbeitet – die unheimliche Kellertreppen-Szene aus Zodiac findet sogar einen direkten Widerhall. Wie zuvor Jake Gyllenhaal, Robert Downey Jr. und Mark Ruffalo sind es nun Daniel Craig und Rooney Mara, die akribisch alle möglichen Unterlagen studieren und zig Informationen auswerten. Regelmäßig gleitet die mit stimmungsvollen Lichtquellen arbeitende Kamera von Jeff Cronenweth (Fight Club) suchend über alte Fotografien, Notizen oder Dokumente und zeigt Recherchen via Internet ("I googled him") ebenso wie solche im Archiv oder die Befragungen der Familienmitglieder. Eine besondere Rolle spielen hier Blicke und Blickfolgen, die in den für die Aufklärung zentralen Fotografien und Videoaufnahmen immer wieder "festgehalten" und den Blicken Anderer preisgegeben werden.

Filmisch bleibt David Fincher bei der detektivischen Puzzlearbeit weit entfernt von der postmodernen Verspieltheit seiner früheren Filme, die deutlich unter dem Eindruck der Werbeclips und Musikvideos aus der Anfangsphase des Filmemachers standen. Vielmehr fällt an Verblendung die zurückhaltende, aber effektive und gekonnt ästhetisierte Gestaltung auf, die den inszenatorisch reifen Kurs von Zodiac und The Social Network fortführt und durchaus als formvollendet bezeichnet werden kann. An die audiovisuellen Ausschweifungen des frühen Fincher erinnern neben einigen Einzelmomenten allenfalls der Videoclip-artige Vorspann und der (hier unaufdringliche) elektronische Soundtrack von Nine Inch Nails-Gründer Trent Reznor. Unterm Strich heißt das: Wer vom ähnlich arrangierten Zodiac enttäuscht war, dürfte auch mit Verblendung seine Schwierigkeiten haben.

Wer aber keine schnell geschnittene oder mit sonstigen Oberflächenreizen ausstaffierte Gefälligkeit erwartet, sondern einen im besten Sinne bodenständig spannenden und auf starken Figuren fußenden Thriller, den kann Finchers neues Werk kaum enttäuschen. Denn hier trifft ein von Steven Zaillian (Die Kunst zu gewinnen - Moneyball) engmaschig konstruiertes Drehbuch auf eine bis in die Nebenrollen hervorragende Besetzung (darunter: Stellan Skarsgård) und die fast schon altmeisterliche Hand eines zweifellos talentierten Regisseurs. So ist Verblendung wie erhofft ein hundertprozentiger Fincher geworden, ein Glanzstück der Reduktion, das den Originalstoff der düsteren Welt des Autorenfilmers einverleibt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/verblendung-2011