Westwind (2011)

Am Ende fallen Mauern

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Die "große" Geschichte mit den "kleinen" Geschichten des Alltags verschmelzen – das ist Robert Thalheim schon in Am Ende kommen Touristen auf beeindruckende Weise gelungen. In seinem neuen Film schildert er ähnlich souverän die deutsch-deutschen Verhältnisse des Jahres 1988: als der "Westwind" in Ungarn oder Polen längst wehte, aber niemand ahnte, dass ein Jahr später die Berliner Mauer fallen würde. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich ein zauberhaft zartes Liebes- und Geschwisterdrama.

Zu welchem Pathos könnte dieser Stoff verleiten: hier die reinen Gefühle der jungen Leute, dort der böse Überwachungsstaat. Hier das freie Deutschland, dort das DDR-Gefängnis. Der 1974 in Westberlin geborene und aufgewachsene Robert Thalheim bedient keines dieser Klischees und liefert dennoch ein genaues Bild der politischen Verhältnisse. Er hält sich an die ureigenste Aufgabe eines Filmemachers: genau hinschauen. So entsteht ein sommerleichtes Stück Zeitgeschichte - zurückgenommen, aber nicht blutleer, ungekünstelt, aber höchst kunstvoll.

Westwind begleitet zwei Zwillingsschwestern aus der Ex-DDR zu einem Ferien- und Trainingslager am ungarischen Plattensee. Doreen (Friederike Becht) und Isa (Luise Heyer) sind zu beneiden. Die 17-Jährigen verstehen sich blind, nicht nur im Zweier ohne Steuermann, in dem sie einer hoffnungsvollen sportlichen Zukunft entgegenrudern. Die innige Zweisamkeit hat paradiesische Züge. "Das ist doch total schön", entgegnet Doreen, als sie auf den Mangel an Individualität angesprochen wird. Das Glück scheint keine Grenzen zu kennen, als die beiden zum ersten Mal ins (sozialistische) Ausland reisen dürfen. Dass man in Ungarn auch Jungs aus Westdeutschland treffen könnte, scheint den beiden erst bewusst zu werden, als sie von zwei Hamburgern angesprochen werden. Für Doreen verkörpert der sensible Arne (Franz Dinda) die erste große Liebe. Und weil die politischen Verhältnisse nun mal so sind, wie sie vor 23 Jahren waren, muss sich Doreen entscheiden: zwischen dem Geliebten und der nicht minder starken Bindung an ihre Schwester.

Die Geschichte mag in der Nacherzählung theatralisch klingen, aber Regisseur Robert Thalheim erzählt sie unverbraucht in frischen Bildern und starken Details. Dass die Figuren so wenig ausgedacht wirken, ist kein Zufall. Der Film beruht auf einer wahren Geschichte, nämlich der von Filmproduzentin Susann Schimk und ihrer Schwester Doreen, die heute im Musikgeschäft arbeitet. Susann Schimk hat auch an der letzten Fassung des Drehbuchs mitgeschrieben, sodass sogar Teile von realen Dialogen in die nichtsdestotrotz eigenständige Fiktion eingeflossen sind.

Die Glaubwürdigkeit von Westwind beruht nicht allein auf den Wurzeln in der Wirklichkeit. Sie beruht in erster Linie auf der Kunst der filmischen Umsetzung: auf der Liebe zu vielsagenden Kleinigkeiten, auf dem souveränen Überspringen von Klischees und auf dem zarten Netz von Bildern, die sowohl in ihrer eigentlichen als auch in ihrer übertragenen Bedeutung funktionieren. Wenn die beiden in einem Boot sitzen, wirkt das ebenso natürlich wie wenn sich das Paar durch ein Loch in einem Zaun küsst.

So entsteht einerseits ein authentisches Bild einer liebevollen Schwesterbeziehung und andererseits eine vielschichtige Erinnerung an eine entscheidende Phase der deutschen Geschichte. Dass der Westwind schon dabei war, die alten Verhältnisse wegzufegen, ist deutlich zu spüren. Aber genauso fein herausgearbeitet ist auch, wie wenig die Menschen damals davon wissen konnten.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/westwind-2011