Shame (2011)

Abseits des Lebens

Eine Filmkritik von Patrick Wellinski

Es gibt in Shame einen Moment, der wie eine Art Luke funktioniert. Für ein paar Augenblicke scheint es so, als könnten wir ins Innere Brandons (Michael Fassbender) blicken. Der gutaussehende Yuppie sitzt mit seinem nervigen Vorgesetzten David (James Badge Dale) in einer Bar, in der Brandons Schwester Sissy (Carrey Mulligan) eine enorm entschleunigte Version von Frank Sinatras "New York, New York" singt. Kameramann Sean Bobitt fängt in langen, starren Close-Ups die Gesichter des Geschwisterpaares ein. Zwischen beiden spielt sich die unvorstellbare Hölle einer kaputten Gefühlswelt wieder. Was die Ursachen für diese Qualen sind, enthält uns Regisseur und Installationskünstler Steve McQueen in seinem neuen Film Shame konsequent vor.

Wie schon in seinem Erstling Hunger, in dem er Michael Fassbender als irischen Widerstandkämpfer inszenierte, interessiert Steve McQueen sich vor allem für die äußeren Ausbrüche seines Protagonisten. Brandon lebt in New York, verdient gut, hat aber ein enormes Problem damit normale und gesunde Beziehungen zu Frauen zu pflegen. Er ist sexsüchtig, besessen vom Geschlechtsakt, den er entweder masturbierend oder mit zahlreichen Prostituierten befriedigen muss. Der Film zeigt das in wohlkomponierten, sehr beeindruckenden langen Einstellungen, die Steve McQueens Klasse als visueller Künstler einmal mehr unter Beweis stellen. Zwar ist Shame im Gegensatz zu Hunger auf der konzeptuellen Ebene weniger streng komponiert, doch er verfügt wieder über jene ausdauernde Beobachtungshaltung, die McQueen zu seinem Markenzeichen als Regisseur zu machen scheint.

Es ist auch auffällig, dass Michael Fassbender wieder in eine Rolle schlüpft, die eine extreme Körperlichkeit verlangt. Die Sexszenen sind derart direkt und unmittelbar inszeniert, dass man diesen großartigen Schauspieler dafür bewundert, dass er sich bereitwillig den Ideen des Films unterordnet. Schließlich hätte man hier durchaus einen gewissen voyeuristischen Effekt riskieren können.

Der Minimalismus der Inszenierung verweist auf einen Film, der sich nur für die exzessiven Ausbrüche einer zutiefst problematischen Persönlichkeit konzentriert. Der Sex dient Brandon als einzige Therapie gegen die emotionale Störung, die es ihm unmöglich macht, eine normale zwischenmenschliche Beziehung zu führen. Am deutlichsten zeigt Shame dies in einer Szene, in der Brandon mit einer Kollegin ausgeht. Im Restaurant sitzend soll er ihr sagen, wie lange seine längste Beziehung gedauert hat. Bis er mit "viereinhalb Monate" antworten kann, unterbricht der Kellner den Dialog, was gleichzeitig die letztliche Antwort Brandons kommentiert. Dabei liegt vielleicht die Lösung für sein Problem in dem Verhältnis zu seiner Schwester, dass durch den ganzen Film hindurch einige höchstinteressante Ambivalenzen durchläuft, die immer wieder auf den ewig verborgenen Kern der Geschichte verweisen.

Doch McQueen verweigert auf eine konsequente und eindrückliche Weise jegliche billige Deutungsmöglichkeit für Brandons seelischen Verfassungszustand. Damit umgeht er auch das Problem einer Psychologisierung, die seine Geschichte sicherlich sehr lächerlich gemacht hätte. So verlangt der Film vom Zuschauer selbst die exzessiven Ausbrüche Brandons zu deuten und nach möglichen Ursachen für dessen Verhalten zu suchen. Ansonsten ist Shame zweierlei: Der gelungene zweite Film eines Künstlers, dessen Arbeit in Zukunft noch von großer Wichtigkeit für das Kino sein könnte. Doch es ist auch die dynamische und stylistisch überaus gelungene Visualisierung einer traurigen Existenz, die ihrer Erlösung nur hinterherlaufen kann. Mit dem verheerenden Resultat, dass Brandon immer zu spät sein wird, um wieder auf die geordneten Bahnen eines normalen Lebens zu gelangen.

(Festivalkritik Venedig 2011 von Patrick Wellinski)

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/shame-2011