Ich reise allein (2011)

Und plötzlich ist alles anders...

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Richtig erwachsen geworden ist er eigentlich nie: Jarle Klepp (Rolf Kristian Larsen) genießt im idyllischen Universitätsstädtchen Bergen das sorglose Leben eines Studenten der Literaturwissenschaft, der gerne Partys feiert, mit seinen Freunden abhängt, sich in seine Forschungen über Marcel Proust vertieft und dann und wann eine unverbindliche kleine Liebelei eingeht. Dann aber erfährt sein Leben eine völlig unerwartete Wende, als ihm eines Morgens ein Brief ins Haus flattert, der es in sich hat. Zu seinem Erstaunen muss Jarle lesen, dass er seit mehr als sieben Jahren Vater einer Tochter ist, von deren Existenz er bislang nicht den geringsten Schimmer hatte. Und schlimmer noch: Diese Tochter namens Charlotte Isabel (Amina Elonora Bergrem) ist bereits auf dem Weg zu ihm, da ihre Mutter, ein One-Night-Stand Jarles, nach sieben Jahren der alleinigen Sorge endlich einmal Urlaub will und findet, dass nun einmal er als Vater dran sei.

Dummerweise hat Jarle natürlich keine Ahnung davon, wie man mit Kindern umgeht – und eigentlich auch kein wirkliches Interesse. Denn die Sorge für ein Kind zu tragen – das passt so gar nicht in seine Lebensplanung. Doch was kann er schon tun? Es kommt, wie es kommen muss: "Lotte" erobert das Herz von Jarles Freundeskreis im Sturm, bei ihrem Vater dauert das freilich ein wenig länger. Doch gegen ihren Charme zieht er – trotz gleichzeitigen Liebeskummers – den Kürzeren. Und dann steht plötzlich nach einer turbulenten Woche, in die auch der siebte Geburtstag seiner Tochter fällt, Anette (Marle Opstad) vor der Tür, Charlottes Mutter. Und Jarle wird schlagartig klar, dass diese Frau, ebenso wie seine Tochter, etwas ganz Besonderes ist...

"Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr" - wie wahr dieser Satz ist, das muss Jarle quasi im Schnelldurchlauf in einer Art einwöchigem Crashkurs lernen – und hat dabei eigentlich noch Glück, dass er all die Freuden der Vaterschaft wie Windelwechseln und viel zu kurze Nächte gar nicht erst kennengelernt hat. Dennoch fühlt sich Jarle durch das plötzliche Auftauchen seiner Tochter wie in einer Art "biologischen Geiselhaft" und schlüpft selbst am Ende auf der Kostümparty für Charlotte Isabel (freilich eher augenzwinkernd) in das Gewand eines Strafgefangenen. Da allerdings hat er sich längst aus dem Gefängnis seiner Vorurteile befreit.

Insofern ist der Titel des Films, der sich auf das Schild bezieht, das Charlotte Isabel bei ihrer Ankunft in Bergen um den Hals trägt, durchaus doppeldeutig zu verstehen: Am Ende der filmischen Reise durch das Abenteuer Erwachsenwerden steht für Jarle zwar kein bedingungsloses Happy End, doch die Erkenntnis, dass die Sorge um Andere vielleicht doch nicht das Schlechteste ist. Zumal seine Tochter ihn lehrt, dass das Leben noch aus mehr besteht als aus Partys und intellektuellem Smalltalk. Und schließlich zeigt ihm das Erlebte auch, dass es gerade in einer durchgeistigten Welt wie der seinen darauf ankommt, das Leben nicht nur theoretisch zu durchdringen, sondern auch, sich dem wahren Leben zu stellen. Erst als Jarle diese Lektion gelernt hat, so zeigt es der Film, tragen auch seine Studien erste Früchte, als eine Zeitung seinen ersten Artikel abdruckt.

Dass Ich reise allein so unglaublich viel Spaß macht, liegt nicht nur an Stian Christiansens gelungener Inszenierung und einem durch die Bank großartigen Cast sowie an der erstklassigen Musikauswahl, die mit 1990-Jahre Indiepop von The Pixies, The Sundays, Pulp und der schwedischen Band Bob Hund die Stimmung jener Jahre prächtig untermalt, sondern auch daran, wie die Geschichte Heiteres und Ernstes miteinander verknüpft und stets die Balance hält zwischen Komik und den sehr lebensnahen Problemen von Jarle und seinen Freunden.

Ein überaus sympathischer Film, der wieder einmal zeigt, dass sich deutsche Filmemacher von ihren skandinavischen Kollegen so einiges abschauen können – diese typische Kombination aus Komik und dem gleichzeitigen Bewusstsein, dass im Leben keineswegs alles heiter ist, sucht man hierzulande überwiegend vergebens. In diesem Sinne darf man hoffen, dass Ich reise allein nicht nur ein Geheimtipp bleibt, sondern vielleicht ein kleines Arthouse-Wunder zum Ende des Kinojahres 2011 hinbekommt. Zu wünschen wäre es ihm.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/ich-reise-allein-2011