Wandlungen - Richard Wilhelm und das I Ging

Vom Missionar zum Vermittler chinesischer Weisheit

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

"In diesem Buch ist ein System von Gleichnissen für die ganze Welt aufgebaut", sagte Hermann Hesse über das I Ging. Ursprünglich ein Orakel mit acht Trigrammen, erfuhr das Buch der Wandlungen im Laufe der 3000 Jahre alten chinesischen Geschichte eine Weiterentwicklung zu einer umfassenden Sammlung von Lebensweisheit. Zu ihren 64 symbolhaften Hexagrammen kamen noch philosophische Kommentare hinzu, die auf Konfuzius zurückgehen. Zwar gab es von diesem einflussreichsten Werk der klassischen chinesischen Kultur schon im 19. Jahrhundert eine lateinische und eine englische Version, aber erst die ausführlichere deutsche Übersetzung des evangelischen Theologen Richard Wilhelm aus dem Jahr 1924 sollte das I Ging einem breiten Publikum in der westlichen Welt zugänglich machen.
Wilhelms Enkelin, die Filmemacherin Bettina Wilhelm, hat sich mit dieser Dokumentation auf die Suche nach den wichtigen Stationen in seinem Leben gemacht. Sie selbst kannte den Großvater nicht, der 1930, viele Jahre vor ihrer Geburt, starb. Auf einer Reise nach China, sagt sie am Anfang ihres Films, wollte sie verstehen lernen, wie Richard Wilhelm vom christlichen Missionar aus Deutschland, als der er 1899 dort ankam, zum Erforscher östlicher Weisheit wurde. Sie setzt seine Biografie und seine Überzeugungen in den Kontext der politischen Umbrüche, die er in China erlebte.

Als Wegweiser dienen ihr auf der sprachlichen Ebene das Tagebuch des Großvaters, der in Voice Over mit der Stimme von Sylvester Groth zu Wort kommt, Zitate aus Werken der klassischen chinesischen Literatur und einige wenige Gesprächspartner. Auf der visuellen Ebene setzt Bettina Wilhelm auf eine abwechslungsreiche Collage aus eigenen Reiseimpressionen und Aufnahmen aus der Zeit ihres Großvaters. Das Publikum wird nicht überfrachtet mit philosophischen Erläuterungen zu den Texten des I Ging, und es gibt, was manche Erwartungen enttäuschen mag, keine konkreten Beispiele, wie es als Ratgeber zu nutzen ist.

Man kann Münzen werfen oder ein Bündel Schafgarbenstengel teilen, um ein Hexagramm zu erhalten, das einen Namen wie "Der Streit" oder "Die Bescheidenheit" trägt. Dabei ist ein gründliches Vertiefen in die Formulierung des eigenen Anliegens die Voraussetzung für alles Weitere. Denn wie die sparsamen, aber pointierten Erklärungen zweier Sinologen betonen, ist das I Ging ein Mittel, um das eigene Unbewusste zu reflektieren und zu erkennen, wie man aus einer bestimmten Situation das Beste macht. Obwohl der Zufall bei der Entstehung der Hexagramme nicht wegzuleugnen ist, sind sie selbst Bilder aus dem kollektiven psychischen Wissen. Der Film geht auch auf die Freundschaft Wilhelms mit dem Psychoanalytiker C.G. Jung ein, der sich ebenfalls sehr für das I Ging interessierte.

Analog der im Buch der Wandlungen herrschende Perspektive auf die Veränderungen, die der Mensch mit seinen Handlungen bewirken kann, richtete auch der Missionar Wilhelm sein 20-jähriges Wirken in der Stadt Qingdao an der Verständigung mit den Einheimischen aus, statt an kolonialer Überheblichkeit. Entgegen den Erwartungen seiner Vorgesetzten taufte er keinen einzigen Chinesen. Aber er gründete zwei Schulen, betätigte sich während des Boxeraufstandes als Vermittler und im Ersten Weltkrieg als Leiter des chinesischen Roten Kreuzes. Auch auf geistigem Gebiet ließ er sich eher inspirieren, als zu bekehren, und übersetzte klassische Werke. Ein Gelehrter bat ihn nach der Wende zur Republik im Jahr 1911, auch das I Ging zu übersetzen, aus Sorge, dass das Werk den politischen Umbruch womöglich nicht überdauern würde. Elf Jahre lang sollte Wilhelm daran arbeiten.

Wie nicht selten bei persönlichen Verbindungen eines Autors zum Subjekt seines Films, ist auch hier eine fragende und immer wieder introspektive Herangehensweise zu erkennen. Bettina Wilhelm sucht im heutigen China nach Anknüpfungspunkten zu den Erfahrungen ihres Großvaters, wo ein Unbeteiligter nur die Büste Richard Wilhelms vor einer Schule in Qingdao sieht oder Menschen in einem Pekinger Park, die zusammen singen oder tanzen. Den losen Bezug der an sich indifferenten Landschafts- und Stadtaufnahmen zum Thema stellen oft nur die unterlegten Kommentare her, so dass in diesem an sich sehr informativen Film die Bilder eher den Text begleiten, als umgekehrt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/wandlungen-richard-wilhelm-und-das-i-ging