Die Thomaner

Seit 800 Jahren auf Weltniveau

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Man kann die Zweifel der jungen Mutter verstehen: Soll sie ihren Sohn wirklich in ein Internat geben, an dessen Strukturen sich seit 800 Jahren nichts Wesentliches geändert hat? Die beeindruckende Dokumentation von Paul Smaczny und Günter Atteln über den Leipziger Thomaner-Chor leistet beides: Sie gibt der Skepsis und den Widerständen Raum, lässt sich aber auch begeistern von einem Leben für die Musik, von dem Willen zu einer besonderen Leistung im Zusammenspiel einer anspruchsvollen Gemeinschaft.
Schon in den ersten Einstellungen wird deutlich, dass ein künftiges Chor-Mitglied mehr braucht als bloß eine schöne Singstimme. Wer in diesem Knabenchor bestehen will, sollte lange Proben genauso aushalten wie einen weitgehend verplanten Tagesablauf. Er sollte sich in Hierarchien einfügen und Enttäuschungen verkraften. "Sensibelchen haben es schwer", räumt Chorleiter Georg Christoph Biller unumwunden ein. Denn der Chor bekennt sich zu einer Tradition, die – durchaus unmodern – dem Dasein für andere einen höheren Stellenwert einräumt als dem Ausleben individueller Vorlieben. Den Wertekosmos, der sich im Werk von Johann Sebastian Bach ausdrückt, muss man also lieben oder zumindest lieben lernen, wenn man bei den Thomanern mehr als nur ein kurzes Gastspiel geben will.

Worin das Einzigartige dieses Chor- und Internatslebens mit all seinen Freuden und schweren Stunden besteht, erzählen die beiden Regisseure anhand des Ablaufs eines kompletten Schuljahres. Das gibt ihnen die Gelegenheit, gezielt auf Höhepunkte hinzusteuern, etwa auf eine große Südamerika-Tournee, und zugleich den ganz normalen Alltag einzufangen – die mitunter zermürbenden Proben, den Einzelunterricht, die Schulstunden, aber auch die Freude am Fußballspiel, an der Kissenschlacht oder an der Heavy-Metal Musik beim morgendlichen Wecken.

Im Grunde ist es eine doppelte, eigentlich widersprüchliche Anforderung, die das Leben der 94 Knaben und jungen Männer im Alter von zehn bis 18 Jahren prägt: Einerseits sollen sie sich einer ganz besonderen Aufgabe widmen - nämlich die geistliche Musik von Bach und anderen Komponisten auf Weltniveau zu präsentieren. Andererseits sollen sie sich nicht als besondere Menschen begreifen – nicht als Individuen, die andere durch ihre Leistung überragen. Ein Chorsänger kann nur in der Gemeinschaft mit anderen brillieren. Diese banale Erkenntnis erwecken Die Thomaner zu gelebtem Leben, mit intensiven, konzentrierten Bildern, die selbst Skeptikern die Vorteile dieses traditionsreichen Erziehungskonzeptes mit seiner hohen Verantwortung der Älteren gegenüber den Jüngeren sinnlich näherbringen.

Paul Smaczny und Günter Atteln drehen schon seit vielen Jahren Dokus über klassische Musik. Paul Smaczny war zum Beispiel auch an El Sistema beteiligt, dem berührenden Film über die persönlichkeitsbildende Kraft klassischer Musik in Venezuela. Auch dem Thomaner-Thema kommt die langjährige Erfahrung zugute, einerseits im souveränen Umgang mit den filmischen Mitteln, im Anziehen des Tempos und Zusteuern auf große Ereignisse, andererseits in dem Herzblut, mit dem sich die Filmemacher ihrem Gegenstand widmen. Der tiefen Überzeugung von der ganz eigenen Wirksamkeit der Bachschen Musik kann man sich insbesondere in den Konzert- und Probenszenen kaum entziehen. Da wird die Frage fast zweitrangig, welche Familie für einen Thomaner nun wichtiger ist – seine eigene oder der Chor.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-thomaner