Unser Paradies

Der Stricher und der Killer - eine Mörderballade

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Angeblich sei er 20, will er seinen Freiern weismachen. Doch die fallen auf solche billigen Tricks von Vassili (Stéphane Rideau) nicht mehr rein und lassen es ihn deutlich spüren, dass er nach einer der beiden Währungen auf dem Schwulenstrich – Jugend – längst nichts mehr wert ist. Ihrer Verachtung und den Erniedrigungen, denen er ausgesetzt ist, begegnet er mit Gewalt und ist damit zum Mörder geworden.
Dann eines Tages in Bois de Boulogne trifft er auf einen wesentlich jüngeren und misshandelten Jungen (Dimitri Durdaine), den er Angelo nennt, weil der nicht sagen will, wie er heißt. "Angelo" ist wie Vassili einer, der anschaffen geht, doch im Gegensatz zu dem Älteren besitzt er (noch) das, worum es in der gnadenlosen Welt der Freier und Stricher geht: Jugend. "Angelo", der Engel, der aus dem Nichts kam und der über seine Vergangenheit nicht gerne redet und Vassili, der Mörder, der keine Zukunft mehr zu haben scheint werden zu einem Liebespaar und am Anfang ahnt der Junge nicht, worauf er sich dabei eingelassen hat. Vielmehr sieht er in seinem Gegenüber – ähnlich wie der selbst – eine Möglichkeit, vielleicht die einzige, sein Paradies oder vielleicht sogar ein gemeinsames Stück vom Glück erhaschen zu können. Doch dafür ist es, ohen dass die beiden etwas davon ahnen, längst zu spät.

Fast zwanzig Jahre währt nun schon die Zusammenarbeit zwischen dem Regisseur Gaël Morel und dem Darsteller Stéphane Rideau – die beiden hatten sich als Schauspieler am Set von Andre Téchinés Wilde Herzen / Les roseaux sauvages (1994) kennengelernt. Kurz nach diesem Durchbruch wechselte Morel – im Gegensatz zu seinen Kollegen aus Wilde Herzen (Elodie Bouchez, Frédéric Gorny und eben Stéphane Rideau) – hinter die Kamera, drehte Filme und schrieb zudem das Drehbuch zu Christophe Honorés Chanson der Liebe / Les chansons d'amour (2007). Wie bereits bei seinen vorherigen Filmen, so kann sich Morel auch bei Unser Paradies voll und ganz auf seine Darsteller verlassen – neben Rideau ist es vor allem der Laie Dimitri Durdaine, der überzeugen kann. Zudem gibt es eine Wiederbegegnung mit Béatrice Dalle, die sich in den 1980ern als Betty Blue – 37,2 am Morgen von Jean-Jacques Beneix in die Herzen der Zuschauer gespielt hat.

Das Paar, das nichts mehr zu verlieren hat, erinnert an andere Killerkonstellationen aus dem New Queer Cinema wie etwa in Tom Kalins Swoon und Gregg Arakis The Living End (beide aus dem Jahr 1992), aber auch an das lesbische Pärchen aus Virginie Despentes' Baise-moi (2000), wobei Unser Paradies ungleich besser, eleganter und wertiger gefilmt ist. Allerdings dauert es eine ganze Weile, bis man sich auf Morels Figuren eingelassen hat – und das liegt vor allem an den zahlreichen erzählerischen Brüchen innerhalb der Geschichte und an der Distanz, die der Film trotz (oder gerade wegen) der zahlreichen sehr intimen Szenen wahrt. An vielen Stellen scheint die romantische Musik, mit denen Morel seinen Film unterlegt hat, förmlich gegenläufig zu sein zu der Kühle der Bilder und zur Abstraktheit der Gefühle, die erst mit dem fulminanten Schluss teilweise aufbricht.

Man hätte sich diesen Film "romantischer" gewünscht, fokussierter auf den Kern der Geschichte sowie maß- und grenzenloser in seinen erzählerischen und ästhetischen Mitteln – dann, so hat man das Gefühl, hätte aus Morels Mörderballade durchaus ein Pendant zu Gus Van Sants My Own Private Idaho entstehen können. So aber bleibtUnser Paradies Stückwerk, bei dem sich viele gute Ansätze in ihrer Summe nicht zu einem gelungenen, aber gleichwohl in einigen Momenten überaus sehenswerten Ganzen zusammenfügen wollen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/unser-paradies