Die Wand (2012)

Im Spiegelkabinett

Eine Filmkritik von Martin Gobbin

Nirgends hat der Mensch so viel Gelegenheit zur Reflektion wie in der Einsamkeit. Und viel einsamer als die namenlose Frau (Martina Gedeck) in der Literaturverfilmung Die Wand kann man nicht sein. Niemanden außer ihr scheint es in der Welt dieser kunstvollen Dystopie zu geben. Die Frau lebt wie in einem Spiegelkabinett: Vorsichtig tastend bewegt sie sich durch den Raum, um nicht gegen jene unsichtbare Wand zu stoßen, die eines Tages plötzlich da war und die Welt in zwei Sphären geteilt hat. Hier die eingeschlossene Protagonistin, dort der ausgeschlossene, in Leblosigkeit erstarrte Rest. Dieser Entzug des Außen zwingt die Frau zur Einkehr ins Innere. Sie spiegelt sich in den Notizen über ihr postapokalyptisches Leben – Notizen, die erst enden, als alles Papier aufgebraucht ist.

"Mein Herz hatte sich schon gefürchtet, ehe ich es wusste", heißt es darin einmal. Regisseur Julian Pölsler ist, wie man an diesem unfilmisch-poetischen Zitat merkt, eng an der Romanvorlage von Marlen Haushofer geblieben, hat seinen Film eher in den Dienst des Buchs gestellt als es neu zu interpretieren. Das ist Stärke und Schwäche zugleich, denn einerseits ist ihm eine visuell und atmosphärisch überzeugende Adaptation des als unverfilmbar geltenden Bestsellers gelungen – andererseits erdrückt der Text-getreue voice-over-Kommentar die Bilder allzu sehr. Bilder, die gar keiner Ergänzung durch Sprache bedurft hätten.

Schon das hochmetaphorische Tasten im Leeren, das Suchen nach Lücken in der Trennwand, ist ein schöner, ja fast surrealer Anblick. Insbesondere aber die stimmungsvollen Aufnahmen der Naturlandschaften sind ein Genuss. Die Wälder sind zu einem mystischen Grau-Blau entsättigt worden, majestätisch thronen die Berge darüber, weißer Schnee überzieht die Felder, das warme Gelb der Sonne bescheint die grünen Wiesen. Dieses Farbspiel wird noch verstärkt durch gelegentliche Schnitte aus bedrückend düsteren Bildern in lebhaft überstrahlte Einstellungen.

Fast die gesamte Handlung entwickelt sich im Rahmen von Flashbacks. Die Frau erinnert sich, wie sie sich langsam in der Einsamkeit hinter der Wand einzurichten begonnen hatte. Das sinnlos gewordene Aufziehen der Uhr, das tägliche Aufschreiben des Erlebten hatte zunächst jene Ordnung in diese neue Welt bringen sollen, die sie aus ihrem alten Leben gewöhnt war. Nach dieser Verdrängungsphase hatte die Resignation eingesetzt – nur die Verantwortung für ihre Tiere (ein Hund, zwei Katzen, zwei Rinder und eine weiße Krähe) hatte die Frau am Leben gehalten.

Die entscheidende Stärke des Science-Fiction-Genres ist seit jeher seine philosophische Tiefe gewesen, die in der Auseinandersetzung mit dem Anderen das Selbst ergründet. Im lo-fi-Science-Fiction-Drama Die Wand eröffnet die Isolation der Protagonistin den Weg zum ozeanischen Gefühl. Nicht mehr an die Interaktion mit Menschen gewöhnt, löst sich ihr Individualismus nach und nach auf und verwandelt sich in ein kosmisches Einheitsempfinden, in ein "Wir", das Spezies-Grenzen überwindet und die Frau mit ihren Tieren verbindet. Die Wand mag sie von ihren Mitmenschen getrennt haben – zugleich aber ist die Trennwand zwischen Mensch und Natur eingerissen.

Aus dieser Dialektik erwächst auch die Zivilisationskritik der Erzählung. In einer explizit symbolischen Szene fährt die Frau einen Wagen an die Wand. Erst als das Auto, jene Insignie der modernen Industriegesellschaft, zerstört und eine Art Naturzustand wieder hergestellt ist, findet die Protagonistin zu sich und einem inneren Frieden. Der Mangel an Liebe, resümiert sie, habe die Menschheit in die selbst verschuldete Katastrophe geführt. Einer spektakulären Darstellung dieses endzeitlichen Daseins verweigert sich der äußerst ruhige, ernsthafte Film ebenso wie einer Entlastung durch humoristische Elemente. Die Bedrohung wird hier nicht in Chaos und Gewalt übersetzt, sondern deutet sich lediglich mit einem unheilvollen Dröhnen auf der Tonspur an. An anderen Stellen wird der Ton gänzlich abgedreht, die verzweifelten Schreie der Frau bleiben für das Publikum stumm – ihre Lebenswelt rückt in eine unerreichbare Ferne, die Leinwand wird zum Äquivalent der Titel-gebenden Wand, die die Protagonistin vor dem Rest der Welt, deren Teil wir sind, verschließt.

Schade ist, dass Regisseur Julian Pölsler der Visualität entweder nicht ganz traut oder der literarischen Vorlage allzu große Reverenz erweist, indem er aus dem Film mitunter ein Hörbuch mit Bildern macht. Immer wieder erzählt die Frau im Kommentar genau das, was wir sowieso sehen.

Das Spiel, das der Film mit verschiedenen Zeitebenen betreibt, soll kunstvoll wirken, ist aber mitunter vor allem verwirrend. Am Ende, als die Frau einen schweren Verlust erleidet, verkitscht eine Szene diese Erfahrung etwas mit überdramatisierenden Zeitlupen. Auch findet Pölsler ein wenig zu sehr Gefallen an rätselhaften, aber narrativ nicht aufgelösten Motiven sowie am altbekannten Trick, die Hauptfigur Traumatisches erleben zu lassen, nur um es dann als Traum aufzulösen.

Insgesamt aber gehört Die Wand zu den beeindruckenden Beispielen jener Welle apokalyptischer Filme, die rechtzeitig zum vermeintlichen Katastrophenjahr 2012 über die immer noch nicht untergegangene Welt hereingebrochen ist (Melancholia, Take Shelter - Ein Sturm zieht auf, Perfect Sense, Another Earth).
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-wand-2012