Die Nacht der Giraffe

Die Ordnungen der Lebewesen

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Klassizifierungen, immer wieder Klassifizierungen. In der Biologie geht es wie in jeder anderen Wissenschaft (und oftmals genug auch im Leben) darum, Ordnungssysteme zu finden für das, was sich uns darbietet. Weil wir die Fülle des Lebens nur so ertragen und fassen können - kategorisiert, eingeordnet, in einem festgefügten Rahmen, der uns beruhigen soll, trösten, der uns Glauben machen soll, das alles habe einen Sinn, einen Plan.
In Edwins Die Nacht der Giraffe erfolgt die Einordnung über Begriffe aus der Zoologie (Es situ, endemic, re-introduction), die hier vor allem zur Bestimmung der Lebensphasen der Hauptperson dient. Plötzlich ist sie da in diesem Zoo, der in manchen Momenten später im Film wie ein Jahrmarkt wirkt, in der Exposition aber wie ein Dschungel oder ein verfallenes Monument aus vergangenen Zeiten. Lana heißt das kleine Mädchen, das in den ersten Szenen des Films durch dieses verwunschene Märchenland irrt, es trägt rosafarbene Turnschuhe, die lustig blinken, eine große Tasche in der gleichen Farbe und sie gehört hier irgendwie nicht her. Zumindest nicht allein und immer wieder nach ihrem Vater rufend.

Dann, nach einem Zeitsprung, ist Lana (Ladya Cheryl) plötzlich zur jungen Frau herangereift. Sie hat einen Traum erlebt - zumindest wenn man die Sache durch Kinderaugen betrachtet: Weil ihr Vater sie dort ausgesetzt hat, ist sie im Zoo aufgewachsen, war stets ganz nah bei den Tieren und hat dort so etwas wie eine Ersatzfamilie gefunden. Dann tritt die Liebe in ihr Leben - in Gestalt eines geheimnisvollen Cowboys (Nicholas Saputra), der es zu zaubern (und sie zu bezaubern) versteht. Mit ihm verlässt sie die Welt des Zoos ("Re-Introduction"), zieht umher und erlernt selbst die Tricks der Illusionskunst, bis sich der Mann eines Tages buchstäblich in Rauch auflöst und nicht mehr zurückkehrt. Weil die Welt da draußen vor den Toren des Zoos in Jakarta wenig mit der geschützten Käfighaltung in der Anlage zu tun hat, gerät auch Lana auf die schiefe Bahn, sie heuert in einem Massagesalon ("mit Extras") an, bis sie schlussendlich wieder in ihre Welt zurückkehren kann - aber vielleicht ist auch das nur ein Traum.

Tier und Mensch, drinnen und draußen, Augen, die sehen und Wesen, die angesehen werden, Traum und Wirklichkeit - es gibt viele, unendlich viele Gegensatzpaare in Die Nacht der Giraffe und mindestens ebenso viele Überschneidungen und Ähnlichkeiten. Wie in einer wissenschaftlichen, einer biologischen oder zoologischen Abhandlung fächert Edwin seinen Kosmos des Animalischen und des Menschlichen auf und schafft ein weites Feld von Referenzen und Querverweisen.

Zwischendrin erinnert der stille und manchmal fast auf meditative Weise melancholische Film beinahe ein wenig an David Lynch - insbesondere in den Szenen mit dem Cowboy, dessen Kunststücke wir Zuschauer ebenso fasziniert betrachten wie die majestätische Giraffe. Dann verliert der Film auch etwas seine verträumte, versponnene Atmosphäre, die dazu einlädt, die Welt gleichsam mit den Augen eines kindlichen Forschers zu betrachten.

In welches Ordnungssystem aber fügt sich Edwins Film Die Nacht der Giraffe ein? Ist er ein Märchen, ein Liebesfilm, eine Tragödie oder Komödie? In keines. Vielleicht ist er am ehesten ein Traum - und genau deshalb geht man ja ins Kino: um zu träumen. Die Probleme kommen dann beim Aufwachen, wenn man das Geträumte verstehen will, interpretieren muss, einordnen mag. Vielleicht könnte das eine Lehre aus diesem Film sein: Dass die Interpretation von Leben die Magie desselben unweigerlich zerstört. Vielleicht ist es ja mit dem Kino ebenso.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-nacht-der-giraffe