John Irving und wie er die Welt sieht (2012)

Text und Welt

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

Es beginnt, noch bevor man ein Gesicht sieht, mit dem Hüpfen von Turnschuhen auf einer Matte. Da springt ein Mann Seil, und das nicht eben schlecht und mit Ausdauer. John Irving, so suggeriert es schon diese erste Szene, ist nicht nur ein Mann der Wort, er ist zuallererst eine physische Präsenz, ein Mann im Leben: kein Intellektueller, der nie hinter seinem Schreibtisch hervorkommt, kein reiner Bücherwurm, sondern jemand, der als Sportler aktiv war und sich noch immer fit hält, der in die Welt hinausgeht, der seine Bücher im vollen Saft des Lebens grundiert.

Der Dokumentarfilmer André Schäfer ist vor allem durch Lenin kam nur bis Lüdenscheid bekannt geworden, seine Verfilmung der Erinnerungen des deutschen Philosophen und Publizisten Richard David Precht. In John Irving und wie er die Welt sieht – der Titel ist natürlich ein offensichtlicher Bezug auf Irvings Roman Garp und wie er die Welt sah – ist er weniger an der Rekonstruktion eines Lebens interessiert als daran, die Spuren der Welt in den Romanen von Irving zu entziffern.

Um aufzuzeigen, wie sehr der Autor Irving seine Geschichten in Realität grundiert, verwendet Schäfer vor allem zwei Zugänge: Zum einen verbindet er assoziativ Stellen aus Irvings Romanen und Erzählungen, die aus dem Off gelesen werden, während dazu Bilder zu sehen sind von Orten und Dingen, die in den Texten vorkommen – oder vorkommen könnten; die ostentativ nicht die Textstellen bebildern, aber doch ihre Themen oder Beschreibungen wieder aufnehmen.

Verbunden, unterbrochen, ergänzt wird das zum anderen immer wieder von Momenten der Spurensuche. Schäfer und sein Team besuchen Menschen, die dem Autor bei seinen Recherchen zur Seite standen und lassen sie berichten, wie die Gespräche mit Irving verliefen, was aus ihrer Sicht von ihrer Realität in den Texten angekommen ist. Sie alle sind dabei sehr gelassen angesichts ihrer Rolle in den Endergebnissen, die die Arbeit des amerikanischen Autors hervorbringt. Besonders offenbar wird das etwa bei einer Köchin, die Irving bei ihrer Arbeit begleitet hat; und richtiggehend amüsant sind die Gespräche mit einem niederländischen Tätowierer und seiner Partnerin, dessen Hilfe der Autor sogar zweimal für unterschiedliche Projekte in Anspruch nahm.

Natürlich kommt auch der Protagonist des Films selbst reichlich zu Wort. Irving spricht über seine Arbeitsweise, seine Notizbücher, auf welches Papier der erste Entwurf kommt; wie er seine Notizen vom Ende her zum Anfang seiner Romane entwickelt. Dazu gibt es Bilder des Autors an seinem Schreibtisch und von seinem Haus, Hund und Lebensraum – all das unterstützt noch den Eindruck eines Handwerkers.

Wenn Irving dann von seinen Erfahrungen als Sportler, als Ringer spricht, von der Disziplin und den Lehren, die er daraus gezogen habe: man sei so lange mit dem Training beschäftigt statt mit Gegnern, wie man auch beim Schreiben viel Zeit allein verbringe, und nur wenig in der Öffentlichkeit. Da treffen sich Mensch, Selbstdarsteller und Autor, denn auch in seinen Texten finden sich solche Kurzschlüsse zwischen Sport und Lebensweisheit, und gerade das Ringen spielt etwa in Garp eine große Rolle.

John Irving ist ohne Zweifel einer der großen amerikanischen Geschichtenerzähler der Gegenwart. Schäfers Film, der pünktlich einen Tag vor dem 70. Geburtstag des Autors in die deutschen Kinos kommt, macht keinerlei Versuch, an diesem Bild zu kratzen, sondern begnügt sich ganz mit dem freundlichen, sympathisierenden Blick auf den Autor. Das muss nicht schlecht sein: der Film bemüht sich nicht, einen literaturkritischen Blick auf Irvings Arbeit zu etablieren oder vorzugeben, sondern interessiert sich eben hauptsächlich für die Arbeitsweise des Autors und für die Spuren von Realität in seinen fiktionalen Arbeiten.

Man lernt dabei einiges: Über die Weite der Recherchen, die ein solcher Autor anstellt, über den autobiographischen Anteil seiner Arbeiten – oft nur Details, aus denen er ganze neue Geschichten stricke, die dann nur noch in diesem einen, selbst erfahrenen Element mit seinem eigenen Leben übereinstimmen. Und natürlich über die Rolle von Freunden, die erste Entwürfe Korrektur lesen.

Über den Autor Irving, den Mensch hinter den Büchern, erfährt man dabei nur das, was man aus den Gesprächsszenen mit ihm herausfischen kann – wirklich persönlich werden der Autor und sein Dokumentarist dann doch nie. Und so ist John Irving und wie er die Welt sieht ein perfekter Vertreter jener Form biographischer Dokumentation, bei der man Ende zwar ein wohlig-warmes Gefühl im Bauch gewonnen und vielleicht mehr über die Entstehung von Irvings Büchern erfahren, aber nur wenig wirklich Neues und Tiefgehendes gelernt hat. Irving-Fans jedenfalls werden den Film lieben.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/john-irving-und-wie-er-die-welt-sieht-2012