Töte mich

Lebenssehnsucht

Eine Filmkritik von Lena Kettner

Adele möchte nicht mehr leben. Seit ihr geliebter Bruder bei einem Unfall getötet wurde, ist das Leben in der Abgeschiedenheit des elterlichen Bauernhofes unerträglich geworden. Harte Arbeit bestimmt den Alltag der Familie, in der es verpönt ist, seine Gefühle offen zu zeigen. Abends schleicht sich Adele heimlich in das Zimmer ihres Bruders und streift sich sein T-Shirt über, um ihm so noch einmal ganz nah zu sein. Sie erträgt die unterschwelligen Vorwürfe ihrer Eltern, ihre Sprach- und Lieblosigkeit nicht mehr.
Doch dem jungen Mädchen fehlt die Kraft, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. Da taucht eines Tages ein aus dem Gefängnis entlaufener Mörder auf, der sich im Bauernhof von Adeles Eltern versteckt hält. Widerwillig schließt er mit Adele einen Pakt – Timo erklärt sich bereit, sie zu töten, wenn sie ihm zur Flucht zu seinem Bruder nach Marseille verhilft. Anderenfalls droht das Mädchen, ihn der Polizei auszuliefern.

In Töte mich, dem neuen Film der Regisseurin Emily Atef, ist ihre Protagonistin nur bereit, auf eine einzige Art und Weise zu sterben: Timo soll sie von einer Klippe stürzen. Bald begreift er, dass Adeles Todeswunsch mehr ist als eine Schuldmädchen-Hysterie. Es ist eine tiefsitzende Sehnsucht nach Erlösung, nach innerem Frieden. Eine romantische Vorstellung, die nichts mit der Realität eines Tötungsvorgangs zu tun hat, wie Adele schnell begreifen muss. Die nackte Angst spricht aus ihren Augen, als Timo sie in einem Gebäude auf dem Gelände eines Umschlagplatzes für Transportlaster an Armen und Beinen fesselt, ihr die Augen verbindet, um sie anschließend zu erstechen. Doch es kommt nicht zum äußersten, da beide aus ihrem Versteck fliehen müssen, als sie draußen Schritte hören.

Plötzlich ist sich Timo nicht mehr so sicher, ob ihre Todessehnsucht nicht vielmehr ein verzweifelter Hilfeschrei nach Anerkennung und Liebe ist. Doch er weist alle Annäherungsversuche seiner jungen Reisebegleitung zurück, hat er doch von anderen Menschen bis jetzt nur Demütigung und Boshaftigkeit erfahren. Ein Täter, der zugleich Opfer ist, hat er doch in seiner Kindheit Misshandlungen durch den eigenen Vater erfahren müssen. Der Beginn ihrer gemeinsamen Reise durch die Wälder Zentraleuropas ist geprägt von Adeles und Timos gegenseitigem Misstrauen. Doch Timo realisiert, dass er lernen muss, Adele zu vertrauen, denn nur mit ihrer Hilfe hat er eine Chance, sich bis nach Marseille durchzuschlagen. Sie ist sein Druckmittel gegenüber der Polizei, die auf der Suche nach dem vermeintlichen Kidnapper des Mädchens ist.

Emily Atef ist mit Töte mich ein radikaler Film über eine sich langsam entwickelnden Beziehung zwischen zwei Außenseiterfiguren gelungen. Die Regisseurin liefert in diesem ungewöhnlichen Roadmovie keine psychologierenden Erklärungsversuche für das Verhalten ihrer Protagonisten, zeigt durch die Gesten, Handlungen und knappen Dialoge ihrer Figuren, wie aus Timos Ablehnung irgendwann Zuneigung zu Adele wird. Die langen, genau inszenierten Aufnahmen der kargen Landschaft, die die beiden auf ihrer Reise durchqueren, sind dabei das Spiegelbild ihrer erkalteten Gefühlswelt. Töte mich beeindruckt aber vor allem durch das intensive Zusammenspiel seiner beiden Hauptdarsteller Maria Victoria Dragus und Roeland Wiesnekker. Maria Victoria Dragus, die 2010 den deutschen Filmpreis für ihre Nebenrolle als Pfarrerstochter in Michael Hanekes Das weiße Band erhielt, ist das Kraftzentrum dieses Films, sorgt durch ihre unaufgeregte Spielweise dafür, dass dieser Films nie ins Sentimentale oder Kitschige abgleitet. Bis zum Schluss bleibt ihre Figur rätselhaft - ein spröder Charakter mit burschikosem Aussehen, der für sein junges Alter eine bemerkenswerte Stärke zeigt.

Töte mich ist eine faszinierende Versuchsanordnung, die jedoch ihre Längen hat. Vielleicht, weil irgendwann zu viele unwahrscheinliche Ereignisse geschehen und die Geschichte um Timo und Adele gegen Ende zu konstruiert wirkt. Dass ein Polizeitrupp, der Timo und Adele kurz vor Marseille im Wald umstellt hat, sie mit einem Auto davonkommen lässt, ohne ihnen zu folgen – auch wenn Timo Adele mit einem Messer bedroht hat - ist ebenso wenig realistisch wie der große Showdown zwischen Timo und seinem Bruder in dessen Haus in Marseille. Sein Bruder hat hier auf ihn gewartet, denn er kennt den Grund für Timos Aggressionen und bereut, Timo nie zu Hilfe gekommen zu sein, wenn dieser vom Vater verprügelt wurde.

Am Ende haben Hunger und Durst, Kälte und Entbehrungen Timo und Adele zusammengeschweißt – und ihre Sehnsucht danach, zu leben. In der letzten Einstellung des Films laufen sie ihrem neuen Leben entgegen, suchen im Hafen von Marseille nach einem Packboot, das sie als blinde Passagiere nach Afrika schmuggelt. Ihre gemeinsame Reise wird nun erst richtig beginnen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/toete-mich