Low Definition Control

Vom Potential der Bilder

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Wir alle werden beobachtet. Wenn wir auf der Straße laufen, wenn wir uns in öffentlichen Gebäuden befinden; beim Arzt schaut man in uns hinein und projiziert unseren Mundraum, unsere Eingeweide, unsere ungeborenen Kinder auf Bildschirme. Der Mensch im 21. Jahrhundert ist ein Bild, noch dazu ein digitales. Die Dimensionen, (Ab)gründe, Verwendungszwecke, Anwendungsgebiete sind unübersehbar, überdimensional.
Der österreichische Dokumentarfilmer und Filmtheoretiker Michael Palm hat versucht sich dem Thema zu nähern und dabei mit seinem Film, für dessen Entstehung er knapp 6 Jahre gebraucht hat, ein vielschichtiges, umfangreiches und denkwürdiges Postulat über die Macht der Bilder geschaffen.

Man staunt nicht schlecht, dass man mit einem Film, der in seiner Machart so einfach gehalten ist, so einen Sturm im Gehirn verursachen kann. Nach dem Film, weiß man gar nicht welches Thema man zuerst diskutieren sollte. Eigentlich ist die Dokumentation, die gerade einmal um die 90 Minuten braucht, um so viele Fragen aufzuwerfen, ganz simpel produziert. Palm hat auf einer Super 8 Kamera, einem inzwischen fast ausgestorbenen, analogen Format, diverse Beobachtungen gedreht: ein Marathonlauf, viele Straßenszenen, Gehirn- und Gesichtsscans etc. – also Alltagsaugenblicke, in denen eigentlich nicht viel passiert.

Dieses Material, verpackt in sieben kurze Kapitel, hat er mit Interviews gemischt, die über diverse Aspekte der visuellen Überwachung sprechen. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit dem immer größer werdenden Überwachungsstaat und dem Heranwachsen eines neuen ultimativen Systems, in dem jeder Mensch potentiell ein Staatsfeind ist. Die Prämisse dieser Überwachung ist eine präventive, man möchte versuchen Taten vorauszuahnen, ihre Strukturen zu erkennen. Ob sich der Mensch an computererrechnete Muster hält? Wenn wir mal ehrlich sind, so richtig berechenbar sind wir nicht.

Hatte man sich beim Sehen von Minority Report noch vor der Idee gegruselt ob des bloßen Denkens eines Verbrechens schon verurteilt werden zu können, so ist diese Utopie zum Teil längst auf dem Weg in die Realität. Abgesehen von der Beobachtung der Außenwelt, gibt es aber auch eine zweite neue Welle, die in den weiteren Kapiteln beschrieben wird: die menschliche Introspektion. Auch hier geht es um das Voraussehen. Im "Baby-Kino" werden heutzutage Föten langfristig beobachtet. Die Fruchtblase als Live-Feed zum Füttern des Informationsdurstes aller Beteiligten – doch was tun mit all den Daten, die dort geliefert werden. Was machen mit Informationen wie der, dass das Kind nicht gesund ist? Oder dass man selbst beim Hirnscan einen kleinen Punkt in seinem Kopf sehen kann, der eventuell mal ein Tumor wird. Oder auch nicht.

Doch dem Film geht es nicht nur darum, die neuen Einsatzgebiete zu verorten, es geht ihm vor allem um das Bild und auch um das Kino in einem übergeordneten Sinne. Palm und seine Interviewpartner erinnern an die Idee, dass das Bild viel mehr Information in sich trägt, ja sogar verborgene, die auf die Zukunft deutet, die der Betrachter noch nicht kennt und erst retrospektiv erkennen wird. Doch die neuen digitalen Systeme sind nicht in der Lage diese zu begreifen. Sie können nur nach Auftrag handeln und dieser macht das Bild als Kunstwerk zu einem binären Informationsstrang, der ohne Verständnis abgeklopft wird auf Abweichungen der Norm.

Und überhaupt, wer ist denn in der Lage die ganze Masse der Bilder zu sehen oder auszuwerten? Menschen auf keinen Fall, Maschinen sind wiederum nur minimal zur Interpretation befähigt. Und was passiert mit Bildern, die gar nicht mehr von Menschen, sondern eben von Maschinen hergestellt werden? Werden in einhundert Jahren die Aufnahmen von Überwachungskameras als ein Archiv, eine Beobachtung unseres gesellschaftlichen Alltags gelten? Diese Vorstellung wäre mehr als pervers, sind diese Bilder ja zum einen voller Exzess an Information und zum anderen gäbe es keine Instanz mehr, die diese dechiffrieren könnte. Sollte man mit diesem Wissen seinen Blickwinkel auf Filme wie Walter Ruttmanns Sinfonie einer Großstadt nicht auch noch einmal überdenken?

Hinter den Unmengen an klugen Gedanken, Fragen und Ebenen, die einen noch lang nach diesem Film nicht loslassen werden, steckt allerdings noch ein kleiner emotionaler Kern, der Palm als definitiven Verfechter des Kinos und des Films outet. Wie einfach hätte er sein Werk mit richtigen Überwachungskamerabildern bestücken können, die ihm Maschinen und Computer zu Haufe liefern. Doch er hat lieber in Handarbeit und auf einem aussterbenden Material gedreht und damit einen stillen Gegenentwurf geschaffen. Seine Bilder über Bilder sind echt. Und tragen einen Exzess an Informationen in sich, dessen Entschlüsselung mehrere Leben beanspruchen würde.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/low-definition-control