For Ellen

Kalte Erinnerung

Eine Filmkritik von Lida Bach

"Komisch, wie sich die Dinge entwickeln", murmelt Joby. "Zuerst war es Claire, die Ellen nicht wollte." Sechs Jahre sind seitdem vergangen. Jahre, in denen die Mutter seines Kindes Ellen zur Fürsorge und in ein Heim gegeben hat. Joby hat seiner Tochter nichts gegeben, sondern ihr den Vater genommen. Verheiratet sind seine Ehefrau und er nur noch auf dem Papier. Dieses Stück Papier ist der Grund für die Reise des unsteten Musikers (Paul Dano) an den Ort, wo er einst seine Tochter zurückgelassen hat, und wo er nun mit Claire (Jena Malone) streitet. Seltsam, wie sich die Dinge entwickeln. Für Joby. Und für Ellen.
Die dezidierte Schreibweise des Titels ist ein stiller Verweis So Yong Kims auf die emotionale Ungewissheit, welche die alles überschattende Furcht hinter der zärtlich-komischen Begegnung ist. Die vernachlässigte Tochter ist für Joby auf mehrfacher Ebene ein Objekt: des Streits und des Besitzes. "Ich dachte, ich kriege von allem die Hälfte", klagt er. "Die Hälfte vom Haus, die Hälfte von der Kleinen." Dass Claire alles bekomme, sei einfach unfair. Interessant wird für den ichbezogenen Protagonisten die Titelfigur erstmals als etwas außerhalb seiner Reichweite, das der Reiz des verbotenen Umgangs begehrenswert macht.

Die Unterlagen der Klinik, wo Claire einst die Abtreibung vornehmen lassen wollte, habe er noch. Nur nicht dabei. Das behauptet er zumindest ihr gegenüber, um sich im Recht zu fühlen oder moralisch überlegen. Dass er weder das eine noch das andere ist, enthüllt sich am deutlichsten dann, wenn seine Vernachlässigung und sein Mangel an Verantwortung Konsequenzen zeigen. Die Schuld sieht Joby immer bei den anderen, sei es bei seiner Noch-Ehefrau Claire, seinem Anwalt, den er als nutzlos beschimpft, weil er der Lage nicht abhelfen kann, oder bei dem Bandkollegen, den er am Handy anschreit: "Ohne mich bist du nichts!". Die beklommene Stille der matten Winterlandschaft zeigt, dass tatsächlich er nichts ist ohne die anderen. Seine Fahrt in die Einöde gleicht einer Wiederholung des Fluchtschemas, das ihn vor seiner Elternrolle davonlaufen ließ. Vor der Aussichtslosigkeit seiner Karriere flüchtet Joby in die verschneite Kleinstadt, wie er einst aus ihr zu einer erhofften Musiklaufbahn floh.

Nach Chicago, von wo er die ganze Nacht mit dem Auto durchgefahren ist. Mit seinen schwarz lackierten Fingernägeln und den Ohrringen ist er ein Fremdkörper: in der verschlafenen Kleinstadt, die unter der Schneedecke wie begraben liegt und in Claires Zuhause, das Ruhe und Geborgenheit ausstrahlt. Unter der kalten Oberfläche schlummert eine irritierende Wärme, auf die Joby erstmals bei seinem Rechtsvertreter trifft. Die Figur des geordneten Anwalts (Jon Heder) konstruiert die Regisseurin in ihrer nachdenklichen Detailstudie als Spiegelbild der zur Anpassung unfähigen Hauptfigur. Ihre gegensätzlichen Lebensweisen sind Kehrseiten einer Medaille; eines Charaktertyps. Beide sind große Jungen, die sich auf unterschiedliche Weise vor dem Erwachsenwerden drücken. Der eine lebt bei seiner Mutter in der Rolle des ewigen Kindes, der andere umgibt sich mit der trotzigen Egozentrik eines rebellischen Teenagers.

Joby hindern seine Scheuklappen aus Narzissmus und Aggressivität daran, die Lebensrealität um sich voll zu erkennen, seinen fast gleichaltrigen Anwalt Schüchternheit und Menschenscheu. Es scheint mehr die Konfrontation mit diesem alternativen alter ego als der Anblick seiner Tochter zu sein, der den von Paul Dano mit einer schwelenden Intensität zwischen Gewandtheit und Zurückweisung gespielten Charakter einen Schritt nach vorn machen lässt: "For Ellen", in deren Kinderzimmer ihn eine Kälte treibt, die Joby nicht nur physisch verspürt: "Ich wusste nicht, wohin ich sonst soll. Also bin ich hierher gekommen."

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/for-ellen