Solang ich lebe - Jab Tak Hai Jaan

Die stille Revolution

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Ein indisches Staatsgeheimnis war dieser Film. Monatelang wurde über den Inhalt spekuliert, gaben kurze Ausschnitte Grund zur Diskussion und Vorfreude. Warum? Nein, nicht weil Shah Rukh Khan (kreisch!) mal wieder in einem romantischen Bollywoodfilm mitspielt – zuletzt hatte er ja vermehrt Actionfilme wie Ra.One, Don und Don 2 - The King is back gedreht. Nein, diesmal lag es am Regisseur. Yash Chopra galt als der König der traditionellen Bollywood-Romantik und Solang ich lebe - Jab Tak Hai Jaan sollte sein letzter Film werden. Zum Entsetzen seiner Crew und ganz Indiens, verstarb er aber während der Dreharbeiten. Der Film konnte trotzdem beendet werden und setzt in einer für deutsche Verhältnisse epischen Länge von 175 Minuten dem König Bollywoods ein absolut ehrwürdiges Vermächtnis. Auch filmhistorisch kommen hier auf fast schon magische Weise Dinge zusammen, die zusammen gehören. Denn Solang ich lebe - Jab Tak Hai Jaan ist in großen Teilen eine modernisierte Version des großen Bollywoodklassikers Daag von Yash Chopra aus dem Jahr 1973, der das Genre damals modernisierte und Unterhaltung mit großer Filmkunst paarte.
Solang ich lebe - Jab Tak Hai Jaan erfüllt auf den ersten Blick alle Erwartungen des traditionellen Kinos. Samar Anand (Shah Rukh Khan) ist ein junger Taugenichts, der in London versucht Geld zu verdienen. Sein Kleinjungencharme hilft ihm bei der Jobsuche und er lernt auch die wunderschöne Meera (Katrina Kaif) kennen und natürlich lieben. Sie ist reich, er ist arm, aber die Liebe kennt keine Grenzen - zumindest nicht im Kino. Klassischer und traditionsreicher geht es kaum, in der ersten Hälfte des Filmes werden wirklich alle klassischen Muster wiederholt. Liebe, die nicht glückt, ein Autounfall und Gedächtnisverlust, Liebespaare, die getrennt sind und sich vor Liebe verzehren. Dazu natürlich Tänze und Gesangseinlagen (natürlich vom großen A.R. Rahman vertont, der auch Slumdog Millionaire den korrekten Bollywood-Touch gab) und dann eine zweite Frau (Anushka Sharma). Die Ingredienzen sind alle da, doch es wird nicht die übliche Suppe.

Denn genau wie Daag hinterlässt Chopra ein Werk, das abermals eine Brechung der Traditionen in sich trägt und eine Erneuerung des großen Genres einleitet. Denn neben dem Üblichen finden hier doch einige erstaunliche Neuerungen statt. Besonders markant setzt der Film den Punkt in Sachen Körperlichkeit. Wo früher Küsse nur hauchend angedeutet oder per Schnitt entfernt wurden, so lässt Chopra hier in der ersten Kuss-Szene eine ganz offensichtliche Nachricht an alle Zuschauer gehen. Die Lippen treffen sich hauchzart - ein Schnitt – ach ja, das Übliche, denkt man, doch dann folgt die kleine feine Revolution. Ein Schnitt zurück und man bekommt ihn zu sehen – einen astreinen Kuss. Und als wäre das nicht genug, kurze Zeit später sieht man beide miteinander nackt im Bett.

Doch das war Chopra eindeutig nicht genug, weitere Neuerungen mussten her. Die Tänze zeigen eindeutige Einflüsse aus dem Hip-Hop, die Kostüme sind modern, Anushka Sharma präsentiert sich ausschließlich in modernen Hosen und auch ihre Attitüde hat nichts mehr von der stillen indischen Frau. Die moderne Gesellschaft ist großes Thema des Filmes. Nur zehn Jahre trennen die Charaktere von Shah Rukh Khan und Anushka Sharma, doch es sind ganze Welten. In dem wohl ehrlichsten Dialog unterhalten sie sich über die Liebe in ihren Generationen. Er, altbacken wie die Bollywood-Romantik, glaubt an die eine große Liebe. Sie, neu, modern und mit einem iPod im Ohr hat reihenweise Sex und verlässt ihre Männer nach drei Monaten. Liebe ist zum Manierismus geworden, also eben zu dem, was man nur aus alten Filmen kennt.

Solang ich lebe - Jab Tak Hai Jaan macht Lust auf mehr und lässt einen gespannt nach Indien schauen. Trotz einiger Längen hier und da und einiger absurd unglaubwürdiger Dreher in der Geschichte, ist der Film nicht nur unterhaltsam (und für seine Laufzeit sogar recht flott), sondern bietet auch einen Stoff zum Nachdenken. Für filmhistorisch Interessierte bietet er zusätzlich noch den Kick, einem Genre bei dessen wünschenswerter Erneuerung beizuwohnen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/solang-ich-lebe-jab-tak-hai-jaan