Nach Wriezen

Nach dem Jugendknast

Eine Filmkritik von Kirsten Kieninger

Die Rückreise ins Leben steht an. Es geht es auf zur Freundin, zur Mama, ins Ungewisse. Die Bedingungen für einen Neustart sind unterschiedlich, ebenso die Delikte, die sie hierhin gebracht haben, in die JVA Wriezen in Brandenburg. Doch vor dem Gefängnistor sind sie für einen Moment gleich: drei junge Männer, die wieder Fuß fassen müssen im Alltag. Am Anfang des Dokumentarfilms Nach Wriezen herrscht fast so etwas wie Chancengleichheit für Imo, Jano und Marcel. Sie müssen sich bewähren, im Auge des Gesetzes und vor den Augen des Zuschauers.
Als Zuschauer ist man gerne schnell mit seinem Urteil: Der Hulk von einem Kerl, der da mit geschorenem Schädel am Tisch sitzt und dumpf grinsend eine Fliege zermatscht; Imo, der „Fliegen-Mörder“ von Wriezen, wer weiß, was der sonst noch so angestellt hat. Viel aufgeräumter wirkt da doch der große Blonde, der mit seiner Freundin die Kaffeetafel deckt. Der Tisch verschwindet unter einer biederen Plastikdecke, an seinem Körper fallen die vielen Tattoos auf. Dass sich gesellschaftsfähig überstochene Hakenkreuze darunter verbergen, das erfährt der Zuschauer erst später. Ebenso, warum Marcel über 8 Jahre einsaß. Es geht in diesem Film nicht darum, was die jungen Männer vor Wriezen getan haben. Es geht darum, wie nach Wriezen ihr Leben verläuft.

Resozialisierung nennt sich dieser Weg im gesellschaftlichen Kontext; für die drei jungen Männer ist es ganz profane Alltagsrealität, die irgendwie gelebt und bewältigt werden muss. Der junge Filmemacher Daniel Abma hat seine Protagonisten über eine Zeitspanne von drei Jahren dabei begleitet.

Marcel bekommt von seiner Freundin Starthilfe in den Alltag. Sie hat den Überblick über seine Termine und Verpflichtungen, begleitet ihn zu Therapie-Sitzungen, hat seinen Papierkram griffbereit geordnet. Jano bekommt immerhin von seiner Mutter Kaffee gekocht, wenn er morgens zum Berufspraktikum geht. Gelangweiltes Farbeimer Auskratzen im Werkshof, Motivation sieht anders aus, Geld lässt sich auch leichter verdienen. Imo konzentriert sich gleich auf Kumpels, Bier und Kiffen. Um so erstaunlicher, dass gerade er, der ohne Wohnung, Freundin oder elterliche Unterstützung in das Rennen um die Resozialisierung gestartet ist, dann die Kurve zu kriegen scheint. Er kehrt Berlin den breiten Rücken, wuchtet im Brandenburgischen Altreifen durch die Gegend, haust bei seinem neuen Chef auf dem Hof und die Wertschätzung, die ihm dieser rau aber herzlich entgegenbringt, scheint die beste Bewährungshilfe.

In 3 Jahren passiert vieles: Freundinnen werden gefunden, Kinder in die Welt gesetzt, das Jugendamt greift ein, Drogen werden genommen und gedealt, Beziehungen werden gelebt, es wird gestritten, vielleicht auch geschlagen. Vieles passiert nicht vor der Kamera. Dokumentarfilmen ist immer auch Verabredung mit den Protagonisten: sagt Bescheid, wenn was wichtiges ansteht, dann sind wir dabei. Auf diese Verbindlichkeit hatten die drei Jungs nach dem Knast wohl wenig Lust. „Keinen Bock auf Kamera und euch“ lässt Imo per SMS einmal Regisseur und Kameramann abblitzen, als die wie verabredet vor seiner Tür stehen. Doch Daniel Abma lässt sich nicht entmutigen, sondern fragt beim nächsten Treffen vor der Kamera einfach nach, was denn seitdem so gelaufen sei. Dabei sind es nicht die – oftmals wortkargen oder ausweichenden – Antworten, die die Geschichten der drei Jungs lebendig und nachvollziehbar machen. Es sind die jeweiligen Situationen und Umgebungen, in denen sie sich befinden und in denen sie sich verhalten, zum Filmemacher, zur Kamera, zu den Menschen um sich herum. Diese Momentaufnahmen vermitteln ganz unverstellt den Stand der Dinge, dramaturgische Leerstellen in der elliptischen Erzählung füllen sich nebenbei im Kopf des Betrachters.

Nach Wriezen lässt uns einfach dabei zusehen, wie die drei Protagonisten ihr Leben leben und unterläuft dabei so manche Erwartungshaltung. Hier sind wir weit entfernt vom Reality-Doku-Stil, in dem Delinquenten im grellen Fernsehlicht vorgeführt und abgestempelt werden. Die Vergangenheit der einst straffällig gewordenen Jugendlichen blendet der Film weitestgehend aus. Im Falle von Marcel ist das allerdings kaum möglich, seine Tat ging damals durch die Medien. Auch seine Entlassung ist eine Zeitungsmeldung wert, seine Freundin liest sie vor. "Das ist Wahnsinn, was da steht", sagt sie. Das, was da steht, hat ihr Freund damals getan. Und wenn man weiß, was er getan hat, sieht man selbst die harmlose Schneeballschlacht mit seiner Freundin mit anderen Augen. Über Marcels Tat gibt es bereits zwei Filme und wie man ihn wahrnimmt, hängt auch davon ab, ob man sie gesehen hat: Der Kick von Andres Veiel und Zur falschen Zeit am falschen Ort von Tamara Milosevic, die damit 2005 ihren Abschluss an der Filmakademie Baden-Württemberg gemacht hat.

Nach Wriezen ist kein Film über drei Täter und ihr Leben mit ihren Taten, sondern ein Film über drei junge Männer und ihren Wiedereinstieg in eine Gesellschaft, die um ihre Taten weiß. Drei junge Erwachsene, auf deren zweiter Chance immer der Schatten der Vorverurteilung liegt. Somit erzählt der Film nicht nur drei Einzelschicksale, sondern liefert auch ein realistisches Gesellschaftsporträt.

Nach Wriezen ist im dritten Studienjahr an der HFF Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg entstanden. Ein HFF-Student der ersten Stunde hat einst die Mutter aller Langzeitdokumentationen geschaffen: Mit Die Kinder von Golzow haben Wilfried und Barbara Junge von 1961 bis 2007 eine ganze Schulklasse ein Stück ihres Lebens begleitet. Auch Jano, Marcel und vor allem Imo möchte man nach 87 Filmminuten gerne einmal wieder treffen – so in 10 Jahren vielleicht – und schauen, ob sie jenseits von Wriezen wirklich ihren Platz im Leben gefunden haben.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/nach-wriezen