Staudamm (2013)

Anatomie eines Amoklaufs

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Solche Jobs gibt es wohl wirklich. Franz Joseph Strauß hatte einen Assistenten, der frühmorgens in der Redaktion die Süddeutsche Zeitung abholte und sie einem Kassettenrekorder vorlas, damit FJS hörbuchmäßig auf dem Laufenden war. Einen ähnlichen Mistjob hat Roman, der mit seinem Leben sonst kaum was anzufangen weiß. Er liest juristische Gutachten, Gesetzestexte, Zeugenaussagen etc. ein für einen Staatsanwalt, der braucht das für irgendwelche Kommissionsberichte oder so. Genau weiß Roman es nicht, es interessiert ihn auch nicht. Er liest, mit trockener, gleichgültiger Stimme, ebenso gleichgültig und trocken, wie er beim X-Box-Spielen seine Freundin demonstrativ missachtet, bis sie mit ihm Schluss macht. Er hat’s halt nicht so mit Menschen, mit seinem Chef kommuniziert er nur per Skype, er ist sich selbst genug.

Dann muss er raus in die Welt, in ein Provinzkaff. Dort liegen auf der Polizeistation ein paar Akten, die der Chef dringend hören muss. Paar Stunden Fahrt, vielleicht eine Übernachtung, mehr nicht – aber denkste. Der Hauptkommissar muss die Weitergabe genehmigen, ist gerade nicht da. Und Roman sitzt fest. Mit ein paar einzulesenden Gutachten, Berichten, Zeugenaussagen zu einem Fall, der Roman mehr und mehr zu interessieren beginnt.

Über das Verlesen der Aufzeichnungen nähert sich der Film einem Amoklauf an – einem fiktiven, dessen Umstände freilich der Realität von Columbine über Erfurt bis Winnenden entnommen sind. Ein Schüler, Außenseiter, aber nicht allzu unbeliebt, bringt 17 Mitschüler und Lehrer um, lässt sich dann von der Polizei erschießen. Ein unglaublich grausamer Vorgang, ein unfassbares Geschehen, dem sich Regisseur Thomas Sieben klug von der Seite, über Bande nähert. Er umkreist die Tat über die indirekte Annäherung von Roman – denn wenn man direkt in diesen Abgrund blicken will, scheut der Abgrund zurück.

Roman lernt im Ort ein Mädchen kennen, sie ist traumatisiert von der Tat, er hat zuvor schon ihre Aussage eingelesen. Sie versucht, mit dem Gewaltakt fertig zu werden, besucht nachts heimlich den Tatort, steigt in die Schule ein und macht Fotos, zeigt sie auch den Fremden, den Amoklauftouristen. Ein zartes Zueinander wird die beiden verbinden, vielleicht eine Liebesgeschichte; vor allem ein subtiler reziproker Austausch: Während er aus der Gleichgültigkeit ins Interesse geführt wird, ist für sie allein schon seine Anwesenheit ein weiterer Weg zur Verarbeitung und Bewältigung.

Es geht dabei auch um die Psyche des Täters. Staudamm, der Titel, bezieht sich nicht nur auf die reale Stätte, wo der Amoklauf endete. Er ist natürlich auch Metapher, denn staut sich nicht bei jedem vieles an, Stress, psychischer Druck, Erwartungen und Ängste? Immer mehr gewährt der Film Einblick in die Verfasstheit des Täters, ohne je vorzugeben, dass ein Verstehen oder Erklären möglich wäre.

Siebens Film ist klar ausgerichtet, auf den Amoklauf, mehr noch auf den Umgang damit: sozusagen ein didaktischer Film, ohne aber platt oder thesenhaft zu werden. Sieben spielt klug mit Spiegelungen: Ist nicht auch Roman ein Typ, der in selbstgewählter Isolation sein Leben führt? In einer unheimlich starken Szene besucht Roman die Schule, den Tatort, geht durch die Gänge, blickt in die Klassenzimmer, die er bisher aus den trockenen Polizeiberichten kennt. Nimmt dann die Hände vor sich, eine imaginäre Pumpgun im Anschlag: Ein Re-Enactment der Tat, ganz für sich. Will er sie nachvollziehen, um sie zu verstehen? Oder kann er nur zu gut verstehen und spielt sie deshalb nach?

Sieben inszeniert einen Film ohne viel äußere Handlung, ohne äußere Konflikte – und ihm, zusammen mit den Darstellern Friedrich Mücke und Liv Lisa Fries, gelingt es, die Spannung zu halten, der inneren Haltung genug Stärke und genug Steigerung zu verleihen, dass Staudamm zu einem wichtigen Beitrag zum Thema wird.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/staudamm-2013