Feuchtgebiete (2013)

Die Traurigkeit einer Analfissur

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Eine Analfissur steht am Anfang des Bestsellers Feuchtgebiete von Charlotte Roche. Ihre Protagonistin Helen hat sich beim Rasieren ihres Hinterns verletzt und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Nun wird sie dort operiert und gibt sich ihren Gedanken an ihre blumenkohlartigen Hämorrhoiden, der Feuchtigkeit ihrer Vagina und körperlichen Ausscheidungen hin, die sie am liebsten isst. Darin steckt je nach Empfindlichkeit einiges an Ekelpotential, doch die zugrundeliegende Geschichte ist denkbar einfach: Helen ist ein Scheidungskind, das ihre Eltern wieder versöhnen will und unter einer traumatischen Erfahrung leidet, von der sie nicht weiß, ob sie sie sich vielleicht ausgedacht hat. Hier setzt David Wnendts Verfilmung des Romans an: Er füllt die Leerstellen der Geschichte mit konkreten Bildern und Handlungen. Vieles, was im Roman nur angedeutet ist, gestaltet er aus – beispielsweise Helens (Carla Juri) Freundschaft mit Corinna (Marlen Kruse), ihre schwierige Beziehung zu ihrer Mutter (Meret Becker) und ihre Erinnerungen an ihre Kindheit. Exemplarisch wird dieser Ansatz an den Avocadokernen deutlich, die Helens zweites Hobby neben der Beschäftigung mit ihrem Körper sind. Sie ist hingerissen von deren Oberfläche, leckt sie ab und nutzt sie zur Selbstbefriedigung. Im Film erzählt eine Rückblende, dass sie ihre Vorliebe für Avocados von ihrem Vater (Axel Milberg) hat, der ihr in einem der seltenen ruhigen Momente mit seiner Tochter die Köstlichkeit dieser Frucht näher gebracht hat. Dadurch wird der Avocadokern vom Fetisch zu einem Symbol für Helens Sehnsucht nach einer etwas heileren Familie als ihrer eigenen.

Indem Helen in Rückblenden einen ausgeweiteten biographischen Hintergrund erhält, wird sie als Charakter besser ausgestaltet und greifbarer. Mit Carla Juri hervorragend besetzt, ist Helen in dem Film glaubwürdiger, außerdem bringt sie die Helens Stärke innewohnende Verletzlichkeit auf die Leinwand. Dadurch unterliegt selbst ihrem provokanten Verhalten ein Hauch Verzweiflung. Zudem verzichtet David Wnendt auf die Wiederholung des Immergleichen, des ständigen Essens verschiedenster Körpersekrete und die regelmäßige Überprüfung von Geschmack sowie Konsistenz der Vaginalfeuchtigkeit. Er greift im Film dieses Verhalten – und damit den humoristisch-skandalösen Ton des Buchs – auf, auch spart er nicht mit ekligen Szenen, jedoch wirken diese nicht kalkuliert, sondern als Teil der Geschichte der Protagonistin.

Dabei spielt David Wendt geschickt mit den Erwartungen des Zuschauers: Schon die Ähnlichkeit zwischen Carla Juri und Charlotte Roche in Aussehen und Sprache trägt dazu bei, dass der beständig hinterfragte autobiographische Anteil des Romans auch im Film impliziert wird. Vorangestellt ist dem Film ein Zitat von Bild Online, in dem diesem Film und dem Buch die Daseinsberechtigung abgesprochen wird. Dann folgt eine Einstellung, die andeutet, dort könnte der Hintern der Protagonistin zu sehen sein – wie es das Buch nahelegt. Doch die Kamera verändert die Perspektive und es stellt sich heraus, dass es eine Aufnahme des Ritzes zwischen Ober- und Unterschenkel war, als sich Helen gerade hingekniet hat. Ohnehin sind die Bilder des Films sehr ausdrucksstark: Mit knalligen Leuchtfarben, sepia durchzogenen Rückblenden und verwaschenen Regenbildern fasst Kameramann Jakub Bejnarowicz den seelischen Zustand seiner Protagonistin ein. Dabei verwendet er die übliche Farbgebung, jedoch sind seine Bilder durchzogen von kleinen Abweichungen, zu denen eine überraschende Perspektive und das Spiel mit Schärfentiefe gehören. Dadurch wird die Wärme des Raums, in dem Helen das erste Mal von einem Mann rasiert wird, im Bild sichtbar. Diese Bilder passen oftmals sehr gut zu der Musik, die insbesondere anfangs etwas zu dominant eingesetzt wird. Aber gerade die Lieder in der zweiten Hälfte des Films – u.a. von Christoph Letkowski, der den Pfleger Robin spielt – unterstützen den Gesamteindruck dieser freizügigen Coming-of-Age-Geschichte und setzen durchaus humoristische Akzente. So wird beispielsweise die Szene, in der vier Pizzabäcker ihr Sperma auf eine Pizza verteilen, mit An der schönen blauen Donau von Johann Strauss untermalt.

Durch das Zusammenspiel von Drehbuch, Musik und Kamera gelingt auch der Stimmungswechsel im letzten Viertel des Films. Wenn sich Helen abermals verletzt, um ihren Krankenhausaufenthalt zu verlängern, ist diese Szene äußerst schmerzhaft mitanzusehen, da neben dem physischen auch Helens psychischer Schmerz deutlich wird. Dass sie dennoch nicht als renitenter Teenager erscheint, ist wiederum Carla Juri zu verdanken. Sie ist die große Entdeckung dieses Films.

Dennoch können auch die großartige Carla Juri sowie die insgesamt gute Besetzung und die starke Bildsprache nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Geschichte des Films trotz der Psychologisierung des Drehbuchs einfach ist und über erhebliches Skandalpotential verfügt. Auch werden sich viele von den expliziten Bildern abgestoßen fühlen. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Feuchtgebiete trotz versiffter Toiletten, Masturbationsszenen und erigierten Penissen ein Film geworden ist, in dem es unter Berücksichtigung der Vorlage erstaunlich wenig zu sehen gibt und David Wnendt seine Protagonistin niemals dem Voyeurismus oder Skandal aussetzt. Stattdessen gibt es selbst in den ekligsten Bildern des Films eine überraschende Zartheit zu entdecken – sofern man sie denn sehen will.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/feuchtgebiete-2013