Die unerschütterliche Liebe der Suzanne

Die Liebe in Zeiten der Ellipse

Eine Filmkritik von Stephan Langer

Jeder narrative Film besitzt eine gemeinsame, untergründige Konstante: er beschäftigt sich zwangsläufig mit dem Thema "Zeit" – und das, ob im Film explizit thematisiert oder nicht. Die Verbindung zwischen "Film" und "Zeit" ist jeder erzählenden Abfolge von Bewegtbildern unweigerlich eingeschrieben. Zur kreativen Gestaltung dieses Bündnisses bieten sich verschiedene Möglichkeiten: Derzeit in aller Munde ist Richard Linklaters Umgang mit dem Thema in Boyhood. Dort lässt er die Menschen im Film altern, in dem er sich über Jahre hinweg mit seinen SchauspielerInnen getroffen hat, um Abschnitte seines Films zu drehen. Auf diese Weise kann der Film die Zeit und die Protagonisten beim Altern beobachten. Einen gänzlich anderen Weg wählt die junge Regisseurin Katell Quillévéré in ihrem zweiten Film Die unerschütterliche Liebe der Suzanne. Sie versucht mittels elliptischen Erzählens eine Chronologie von 25 Jahren (bei Linklater sind es deren "nur" zwölf) im Leben jener Suzanne realistisch zu vollbringen.
Ein Prolog zeigt sie auf einer abendlichen Tanzveranstaltung in der Grundschule. Ihr Vater Nicolas (François Damiens) sitzt stolz und voller Erwartung im Publikum. Hinter der Bühne werden die kleinen, nervösen Mädchen geschminkt und in ihre Tutus gesteckt. Eine Einstellung ist sehr nah an Suzannes Gesicht, als sie ihre Mimik plötzlich minimal verändert. Ohne erfindlichen Grund wird dadurch aus einem strahlenden Lächeln ein finsterer Blick. Geschickt deutet dieser ansatzlose und jähe Wechsel bereits zu Beginn eine Instabilität von Suzannes Charakter an. Bei ihr gibt es niemals den Zustand eines Gleichgewichts, ein Merkmal, das den Verlauf der Geschichte entscheidend beeinflussen wird. Erzählt wird die doppelte Familiengeschichte von Suzanne (Sara Forestier): einerseits lebt sie mit ihrer Schwester Maria (Adèle Haenel) und ihrem Vater in Languedoc im Süden Frankreichs. Die Mutter der beiden Mädchen ist früh verstorben, Vater Nicolas arbeitet als Lastwagenfahrer und ist gleichzeitig Hausmann. Er tut liebevoll alles in seiner Kraft stehende, um seine Vaterrolle auszufüllen, auf dass beide Schwestern eine geordnete und normale Kindheit erleben können. Dann wird Suzanne ungewollt schwanger, womit ihre zweite Familiengeschichte beginnt, diesmal mit ihr selbst als junger, überforderter Mutter, die sich zusätzlich noch schwärmerisch in den Kleinganoven Julien (Paul Hamy) verliebt.

Doch zurück zur auffälligen Dramaturgie von Die unerschütterliche Liebe der Suzanne. Der Erzählfluss wird wiederholt unterbrochen von Schwarzblenden, nach denen die Geschichte an einem vorangeschrittenen Punkt in der Zeit wieder aufgenommen wird. Anders hätte Regisseurin Quillévéré es auch nur schwerlich hinbekommen, die Spanne von 25 Jahren in 99 Filmminuten unterzubringen. Die Leerstellen fordern einen aktiv Zuschauenden, der die Leere mit eigenen Erfahrungen und Gefühlen füllt. Neben aller Aktivität und Präsenz verhindern sie leider als optisch wiedererkennbare Struktur, dass der Zuschauende diesen wunderbaren, kurzen physiognomischen Schock erleidet, den zum Beispiel Boyhood ohne Schwarzblenden erreicht – hier sind dieselben Menschen auf einmal andere geworden. Stolperstein für die Gesamtgeschichte sind die zeitlichen Leerstellen allerdings nicht. Gewöhnungsbedürftig ist, dass nahezu alle die Handlung vorantreibenden Impulse aus der Leerstelle oder dem Off kommen. Im Bild sehen wir dann, wie nach jeder Abblende die Figuren damit beschäftigt sind, die Konsequenzen aus dem Nicht-Gezeigten zu verarbeiten. Damit zwischen elliptisch erzählter Geschichte und Zuschauenden nicht zu viel Distanz entsteht und sich die Figuren nicht vollends der Empathie entziehen, setzt Quillévéré beim Charakter der Suzanne voll auf Emotionalität.

Die unerschütterliche Liebe der Suzanne schleudert einen gefühlsmäßig hin und her, getragen vor allem durch Sara Forestiers vehemente Interpretation der Suzanne. Die Verve ihres unsteten Charakters, ihr nachvollziehbarer Hedonismus, den sie auch (gegen sich) auslebt, der Zustand des Momentanen, in dem sie sich ständig befindet, alles das spielt sie zurückhaltend und deswegen umso einnehmender. Das Grab ihrer Mutter ist ein Fixpunkt des Films – dort fällt am Offensichtlichsten auf, dass Suzanne ihr Kind dem selben Schicksal aussetzt, das sie auch erleiden musste, nämlich einer Kindheit ohne Mutter. Beeindruckend ist der romantische Mut, ja fast schon die obsessive Konsequenz, mit der sie sich bis zur Selbstaufgabe ihren Gefühlen und Julien unterwirft. Dadurch, dass wir sie öfter konfrontiert mit den Auswirkungen ihrer Entscheidungen sehen, als beim Treffen dieser (das findet Off-Screen statt), nimmt man als Zuschauer weniger schnell eine wertende Haltung gegenüber der Figur ein, was den Film nicht in ein schnödes Sozialdrama abgleiten lässt. Die Handlung wäre ja wie maßgeschneidert dazu.

Ästhetisch verhindert das eine außerordentlich gute, naturalistische Kamera (verantwortlich: Tom Harari), die gekonnt einher geht mit unaufdringlichen Bildern dokumentarischer Qualität. Zusammen mit dem insgesamt umwerfend aufspielenden Ensemble erzeugen sie eine Milieustudie voll melancholischem Realismus, ohne dass dadurch das niedrige soziale Milieu der Familie romantisiert wird. Quillévéré vermeidet Opfer- und Täterrollen, die Kostüme evozieren zusammen mit der pointiert gesetzten Musik der 1990er und 2000er (Hole oder Noir Desir) eine passende Atmosphäre zu den Jugendjahren von Suzanne. Am Ende bleiben Luftaufnahmen eines Autos, das auf einer schier endlosen Straße entlang fährt, dazu Leonhard Cohens "Suzanne", als Gospelversion gesungen von Nina Simone, mit einer Stimme, die alles erlebt zu haben scheint und einen nach einem sehr sehenswerten Film voller Auf und Abs mit dezentem Optimismus zurück lässt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-unerschuetterliche-liebe-der-suzanne