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Wie die Blumen, so blühen die Menschen im üppig-sinnlichen zweiten Film von Ofir Raul Graizer. Und das trotz zahlreicher Schicksalsschläge.

America (2022)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Explosion der Farben und Gerüche

Wasser, Licht und Erde – mehr brauchen Pflanzen nicht zum Wachsen. Bei Menschen sieht es etwas anders aus, sie gedeihen nicht ohne Zuneigung, Freundschaft und Liebe. Wie beides zusammenhängt, darüber hat der in Berlin lebende israelische Regisseur Ofir Raul Graizer einen sinnlichen, lebensbejahenden Film gedreht. Wie schon sein Vorgänger, das Debüt „The Cakemaker“ (2017) dreht sich die zweite Arbeit des Filmemachers um eine Dreiecksbeziehung der besonderen Art. Besser gesagt, um zwei Männer und eine Frau, die jeweils eine ganz selbstständige Beziehung zueinander haben, ohne dass dies zu den üblichen Dramen und Verwicklungen führen würde.

Üppige Blüten, wohin das Auge reicht: Im Tel Aviver Blumenladen von Iris (Oshrat Ingedashet) und Yotam (Ofri Biterman) explodieren die Farben und Gerüche geradezu. Alles strotzt vor Kraft und Leben. Aber vorerst kann der aus den USA zur Nachlassabwicklung seines Vaters gekommene Schwimmlehrer Eli (Michael Moshonov) mit der Pracht wenig anfangen. Er wählt eine schlichte grüne Pflanze, die kaum Pflege braucht – eine Art Metapher für den emotionalen Zustand des allein lebenden jungen Mannes, der einst vor seinem Heimatland und seiner Familie geflohen ist, um den gewalttätigen Vater zu meiden. Im Grunde betritt Eli auch nicht wegen der Blumen den Laden, sondern um seinen Jugendfreund Yotam wiederzusehen.

Die innige Beziehung der beiden blüht sofort wieder auf, wie kleine Jungs machen sie einen Ausflug zu einem verwunschenen Wasserfall, wo sie früher immer gebadet haben. Aber während Eli ein Nickerchen hält, verunglückt Yotam tragisch. Er fällt für viele Monate in ein Koma und niemand weiß, ob er je wieder gesund werden wird.

Wie ein Roman ist America in drei Teile gegliedert, plus einem Prolog und einem Nachspiel. Jeder Teil dreht sich um eine Zweierbeziehung, die zwischen den Männern, die zwischen Iris und Eli und schließlich die zwischen Iris und Yotam. Zu Beginn verrät Regisseur und Drehbuchautor Ofir Raul Graizer nicht viel über seine Protagonisten. Erst nach und nach werfen die jeweiligen Vorgeschichten neues Licht auf die Charaktere, lassen sie schimmern und glänzen, ohne ihre Geheimnisse vollständig zu verraten.

So bleibt die langsam und bedächtig erzählte Geschichte ständig im Fluss, ohne an Spannung zu verlieren. Auf den groben Plot kommt es dem Filmemacher dabei sowieso nicht an. Ihm geht es um die Komplexität seiner Figuren und um die flirrende Sinnlichkeit ihres Zusammentreffens, eingefangen von einer ruhigen, tastenden Kamera im prallen Breitbild-Format. Oder anders gesagt: Er interessiert sich für das Leben als solches.

Bestechend ist dabei der menschenfreundliche und zärtliche Ton, in dem der Film seine drei Hauptfiguren umspielt. Er hüllt sie ein in eine nährende Atmosphäre, quasi wie die Blumen in dem exquisit schönen Laden, den Graizers Ehemann und Produktionsdesigner Daniel Kossow gestaltet hat, selbst ein Florist. Auch das Kochen spielt eine große Rolle: die Kräuter vom Markt, ihre Gerüche und die Assoziationen, die sie auslösen. Selbst wenn das Schicksal zweien der Protagonisten übel mitgespielt hat, so haben sie doch eine Leidenschaft und Bestimmung gefunden, die sie wachsen lässt: Iris das Gärtnern und Eli das Schwimmen. Wie der Trainer seinen jungen Schützlingen die Angst vor dem Wasser nimmt, wie er ihnen ein Gefühl der Sicherheit vermittelt, obwohl er doch selbst in ständiger Unsicherheit aufwuchs – das erzählt der Film unsentimental wie nebenbei und mit leichter Hand, aber gerade dadurch umso eindringlicher.

Es ist erstaunlich, wieviel America mit The Cakemaker gemeinsam hat und welch eigene Wege der zweite Film trotzdem geht. Da ist zum einen die Dreiecksbeziehung. Wie beim Debüt entwickelt sich die konkurrierende Beziehung erst, als der Partner der ursprünglichen Liebe von der Bildfläche verschwindet, durch einen tödlichen Unfall oder – wie hier – durch das Koma. Vor allem aber sticht die Sinnlichkeit ins Auge, die der Autorenfilmer aus den grundlegenden Dingen des Lebens herausdestilliert, dem Backen im ersten und dem Gärtnern im zweiten Film. Obwohl das Kino eigentlich nur das Sehen und Hören bedienen kann, meint man in America die Blüten und Kräuter förmlich zu riechen. Das Interesse für die lebensfördernden Dinge ist dabei kein billiger Eskapismus – es gibt genug tragische Unglücke im Film. Es ist die reife und aus Erfahrungen gewonnene Einsicht, dass man selbst der verdorrtesten Erde etwas Grün abringen kann. Wo wüsste man das besser als in Israel?

 

America (2022)

In seinem zweiten Spielfilm feiert Ofir Raul Graizer das Kino der 1960er und 1970er Jahre. America ist eine gefühlvolle Dreiecksgeschichte voller Farben und Düfte – zwischen Swimmingpool und Mittelmeer, Leben und Tod. Eli arbeitet als Schwimmtrainer in Chicago. Als ihn die Nachricht vom Tod seines Vaters erreicht, reist er widerwillig zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder nach Israel. Obwohl er eigentlich mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hat, nimmt er Kontakt zu Yotam auf, einem Freund aus Kindertagen, der in Tel Aviv mit seiner Verlobten einen Blumenladen betreibt. Die Wiederbelebung der alten Freundschaft setzt eine Reihe von Ereignissen in Gang, die dem Leben jedes Einzelnen eine andere Richtung geben.

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