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Der kurdische, in der Schweiz lebende Regisseur Mano Khalil setzt dem Dorfleben zur Zeit seiner Kindheit ein liebevolles und wehmütiges filmisches Denkmal. Das erste Schuljahr seines Alter Ego Sero im syrisch-türkischen Grenzgebiet bedeutet auch den Abschied von einer unbeschwerten Kindheit. 

Nachbarn (2021)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Eine Kindheit im kurdischen Dorf

Auf den ersten Blick scheint die Welt in diesem kurdischen Grenzdorf in Syrien ganz in Ordnung zu sein, aber das ist schon 40 Jahre her. Die Erinnerungen des Ich-Erzählers Sero (Sherzad Abdullah) führen ihn zurück in sein erstes Schuljahr. Der Junge (Serhed Khalil) von damals wünscht sich sehnlichst einen Fernseher, damit er wie die Kinder in der Stadt die lustigen Cartoons schauen kann. Und gegenüber der winzigen Schule sitzen die alten Männer und sehen mit der aus Erfahrung gewachsenen Skepsis zu, wie sich der neue Lehrer (Jalal Altawil) aus der Stadt in seine Bildungsmission stürzt. Aber dem anfangs so fröhlichen Sero beschert das Jahr lauter Schicksalsschläge, die mit der unheilvollen Entwicklung der Diktatur der Assad-Familie einhergehen.

Der in der Schweiz lebende Regisseur und Drehbuchautor Mano Khalil (Der Imker) ließ sich zu diesem Drama von seinen eigenen Erinnerungen an die Kindheit in einem kurdischen Grenzdorf in Syrien inspirieren. Die Erlebnisse des jungen Sero schildern ungeschönt, wie eine radikale, nationalistische Politik das friedliche Leben einer Dorfgemeinschaft systematisch zerstört. Und doch ist das epische Drama auch durchzogen von humorvoller und wehmütiger Leichtigkeit. Die Kinder, die wie Sero voller Hoffnung und Glauben an das Gute sind, und die Alten, die sich ihre Gelassenheit nicht so einfach rauben lassen, verkörpern eine filmische Botschaft: Die gute Nachbarschaft zwischen Menschen verschiedener ethnischer Gruppen auf syrischem Staatsgebiet war einmal möglich und kann daher auch wieder wachsen. Der vom Regime angeordnete Antisemitismus und der Kult um die Baath-Partei bleiben den kurdischen Bewohnern dieses Dorfs ebenso fremd wie den Schulkindern das Gebot, nur noch arabisch zu sprechen. 

Die Familie Sero lebt in guter Nachbarschaft mit einer jüdischen Familie, die systematisch entrechtet wurde. In der Schule hetzt der neue Lehrer, Mitglied der Baath-Partei, tagtäglich gegen Israel und das Judentum. Sero muss gar wie die anderen Schüler einer Strohpuppe, die dem Lehrer zufolge die „zionistische jüdische Entität“ darstellen soll, mit einem Messer in den Leib stechen. Die meisten jüdischen Bewohner haben das Land bereits verlassen, nur die Familie der jungen Hannah (Derya Uygurlar), die so freundlich zu Sero ist, ist geblieben. Sie kann auch gar nicht weg, denn syrische Juden dürfen keine Ausweise besitzen. 

Die Kurden des Dorfes haben zwar Ausweise, aber sie können ihre Verwandten auf der türkischen Seite der aus Sicht der Bevölkerung willkürlich gezogenen Grenze nicht einfach spontan besuchen. Die erlaubten kurzen Begegnungen am Grenzzaun sind ein Anlass für die stationierten Soldaten, die Leute zu schikanieren und herumzukommandieren. Absurder Höhepunkt der Schikanen ist der gleichzeitig von beiden Seiten ergehende Befehl an die Familien, nur in der jeweiligen Landessprache zu sprechen, also türkisch beziehungsweise arabisch. Im Grunde ist niemand im Land frei und selbstbestimmt. Junge Männer wollen nicht für den Krieg rekrutiert werden, und die Schulkinder im Dorf haben keine Ahnung, warum sie beim Fahnenappell den Führer Hafez al-Assad preisen müssen.  

Das Kind Sero verliert im Laufe dieses ersten Schuljahres seine Mutter (Jiyan Agdogan) und weitere geliebte Bezugspersonen. Die Mutter stirbt beim Wäschewaschen durch die Kugel eines Grenzsoldaten, der stets zu lustigen Streichen aufgelegte Onkel Aram (Ismail Zagros) wird verfolgt und fällt im Guerillakrieg. Hannah, die in Aram verliebt war, erkennt, dass sie im Dorf keine Zukunft mehr hat. Trotz seiner Traumatisierung durch all diese Ereignisse registriert Sero auch Akte der Solidarität im Dorf oder dass die anderen Schulkinder unter der Grausamkeit des Lehrers ebenso leiden wie er. Khalil schildert mit einfühlsamem Blick, wie die Kinder im Spiel das Erlebte verarbeiten, wie sie Erwachsenen auch mal die Meinung sagen, wie die Großeltern sie beschützen. 

Mit satirischer Schärfe nimmt der Regisseur die Willkür der Behörden aufs Korn, indem er Seros Vater einen wahren Spießrutenlauf absolvieren lässt. Bei der Beantragung von Pässen wollen mehrere Beamte bestochen werden, und bei der Rückkehr verlangt ein Geheimdienstmann auch noch seinen schicken Anorak, einfach weil er die Macht hat. Khalil stellt männliche Charaktere nicht heldenhaft, sondern differenziert und sehr individuell dar. Es gibt prügelnde Ehemänner, und Seros Vater bricht einmal in Tränen aus. Der nationalistisch verblendete Lehrer muss seine Lektion noch lernen: Der von ihm als Symbol der arabischen Welt gepflanzten Palme lässt sich das Gedeihen in der klimatisch rauen Region nicht befehlen.

Khalil ist mit dieser wehmütigen Liebeserklärung an das Dorfleben wie in seiner Kindheit, in das eine grimmig nationalistische Außenwelt hereinbricht, ein berührender Film gelungen. Sein Hauptverdienst liegt in der minutiösen Darstellung des bereits vor Jahrzehnten praktizierten Führerkults in der syrischen Diktatur und der langjährigen schulischen Indoktrination zum Hass gegen das vom Regime zum politischen Todfeind erklärte Israel. Der Untergang der zivilen Gesellschaft, der heute in Syrien zu beklagen ist, wurzelt, wie der Film indirekt erkennen lässt, auch in der schon damals ausgeübten Unterdrückung der Meinungsfreiheit und der ethnisch-kulturellen Vielfalt.

Nachbarn (2021)

Ein kleines Dorf vor 40 Jahren an der syrisch-türkischen Grenze – der kleine Sero erlebt sein erstes Schuljahr, spielt freche Streiche mit seinen Kameraden, träumt von einem Fernseher, damit er endlich Cartoons schauen kann. Am Sabbat darf er die Lichter seiner jüdischen Nachbarn anzünden, mit denen seine Familie eine enge Freundschaft verbindet.Gleichzeitig muss er erleben, wie die Erwachsenen immer mehr von nationalistischer Willkür und Gewalt erdrückt werden. (Quelle: Barnsteiner Film)

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