Log Line

Der junge gutaussehende Alexandre hatte noch nie ein Problem, eine Frau zu bekommen. Doch an einem Abend ging er zu weit. Als kafkaeskes Gerichtsdrama inszeniert Yvan Attal eine Geschichte, deren wahren Kern nur zwei Menschen wirklich kennen.

Menschliche Dinge (2021)

Eine Filmkritik von Melanie Hoffmann

Eine Geschichte kennt immer zwei Seiten

Alexandre Farel (Ben Attal) ist ein gutaussehender junger Mann, in einer privilegierten Situation aufgewachsen und studiert an einer Elite-Uni in den USA. Auf Besuch bei der Familie in Paris ist der Sonnyboy überall gern gesehen. Sein Vater Jean (Pierre Arditi) ist ein prominenter TV-Moderator und hielt es offenbar schon sein ganzes Leben nicht so sehr mit der Treue. Aktuell steigt er der hübschen Praktikantin seiner Redaktion hinterher. Alexandres Mama Claire (Charlotte Gainsbourg) hingegen ist eine angesehene Intellektuelle, die sich für Frauenrechte starkmacht. Längst hat sie sich von Jean getrennt.

Bei Claire und ihrem neuen Lebensgefährten Adam (Mathieu Kassovitz) lernt Alexandre die schüchterne Mila (Suzanne Jouannet) kennen. Sie ist Adams 17-jährige Tochter, also gewissermaßen Alexandres Stiefschwester. Claire und Adam halten es sofort für eine ausgezeichnete Idee, wenn Mila zum Klassentreffen von Alexandre mitginge. So würde sie mal ein paar Leute kennenlernen. Doch als am nächsten Tag die Polizei vor Alexandres Wohnung steht, fällt der aus allen Wolken: Anzeige wegen Vergewaltigung. Er ist sich keiner Schuld bewusst. Gibt er gekonnt das Unschuldslamm? Oder war alles nur eine Verwechslung?

Basierend auf dem Roman von Karine Tuil erzählt Yvan Attal eine Geschichte wie aus einer Kafka-Welt. Doch tatsächlich wurde die Autorin von einem realen Fall inspiriert. Der „Fall Stanford“ trug sich ähnlich im Umfeld von Studentenparties zu und wurde vor allem in den USA heiß diskutiert. Was ist noch Verführung und was schon Nötigung? Wo genau liegt die Grenze zur Vergewaltigung? Nicht erst seit #MeToo muss das diskutiert werden. Für den einen ist es noch Dirty Talk, für die andere bereits eine eklige Anmache oder gar Nötigung. Die Grenzen behutsam auszuloten ist inzwischen Teil unserer Flirtkultur geworden und ausreichende Mengen Alkohol lassen Hemmschwellen fallen, dürfen aber keine Entschuldigung sein. Vor Gericht alle Details aufzurollen, ist für alle schwierig, selbst für das Publikum.

Leider bleibt im Film die Versuchsanordnung eher steril. Alexandre selbst besitzt zu wenig eigenen Charakter. Er wird fast nur als Sohn eines Machos, der sich immer die hübscheste und jüngste Gespielin aus der Redaktion aussucht und auch als Sohn einer Feministin, die sich kämpferisch öffentlich für Frauenrechte einsetzt, beschrieben. Jede Figur vertritt zwar ihre Meinung und Haltung, insgesamt haben diese aber nicht genug Tiefe. Das nimmt dem ganzen ein wenig Glaubwürdigkeit und lässt den Film zu theoretisch und verkopft wirken. Interessanterweise ist ausgerechnet die intellektuelle Feministin die menschlichste Figur, da sie ihre Position verlässt, um sich wie eine Löwenmutter für ihren Sohn einzusetzen. Selbstverständlich sieht sie sich bösen Vorwürfen ausgesetzt, aber hier siegt die Menschlichkeit über eine vermeintliche Charakterstärke.

Was bei aller intellektueller Sterilität an dem sich zum Gerichtsfilm entwickelnden Drama faszinierend ist, liegt in der verschachtelten Erzählweise begründet. Den fraglichen Abend bekommt das Publikum häppchenweise in Fragmenten serviert. Ganz wie Alexandre Dinge eingesteht oder sich wieder erinnert. Ganz wie Mila ihre Scham überwindet und neue Details erzählt. Wie eine Zwiebel schält sich die Wahrheit Stück für Stück heraus. So gibt es auch auf Zuschauerseite keine Vorverurteilung, wir waren schlicht nicht dabei und werden so zu Schöffen. Bis zum Ende behält sich der Film einen Restzweifel an beiden Geschichten vor, woraus großes Diskussionspotenzial hervorgeht. Denn wem schenkt man nun Glauben? Und warum?

Menschliche Dinge (2021)

Die Farels sind angesehene Leute: Er ist ein berühmter Fernsehmoderator, sie eine Schriftstellerin, die für ihre feministischen Positionen bekannt ist. Als ihr Vorzeigesohn, der an einer amerikanischen Elite-Universität studiert, beschuldigt wird, im Urlaub in Paris eine junge Frau vergewaltigt zu haben, gerät das Leben aller aus den Fugen. (Quelle: Zurich International Film Festival 2021)

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen