Rachel

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Tod einer Aktivistin

Es ist der 16. März des Jahres 2003 in der Stadt Rafah im Gazastreifen. Mit orangefarbenen Warnwesten, wie man sie sonst vor allem von Bauarbeitern kennt, treten junge Menschen aus verschiedenen Ländern israelischen Bulldozern entgegen, die sich anschicken, palästinensische Häuser zu zerstören. Die Aktivisten gehören allesamt einer pro-palästinensischen Organisation namens „International Solidarity Movement“ (kurz: ISM) an. Deren Ziele liegen in der Dokumentation und im Veröffentlichen der Lebensumstände in den Palästinensergebieten, aber auch im gewaltlosen Widerstand gegen die Besatzungspolitik Israels und darin, die öffentliche Meinung gezielt zu beeinflussen.
Eine der Freiwilligen des ISM an diesem Tage ist die 22-jährige US-Amerikanerin Rachel Corrie, die sich wie ihre Kameraden und Mitstreiter furchtlos den stählernen Kolossen entgegenstellt. Was im Folgenden geschieht und welche Umstände zum Tode Rachel Corries führen, darüber gibt es verschiedene Versionen. Während die verantwortlichen Stellen der israelischen Armee bis heute von einem bedauerlichen Unglück sprechen, sehen das die Augenzeugen des ISM anders. Simone Bittons bei der Berlinale 2009 heiß diskutierter Film Rachel stellt den Versuch dar, Licht ins Dunkel des rätselhaften Todes der jungen Amerikanerin zu bringen – und gerät dabei zwischen die ideologischen Fronten des Nahost-Konflikts.

Neben den Protokollen und Rekonstruktionen sind es vor allem zahlreiche Augenzeugen und Interviewpartner, die Simone Bitton vor die Kamera geholt hat, Bewohner der Stadt Rafah, ISM-Aktivisten und Experten, die minutiös versuchen, die Umstände von Rachel Corries Tod zu ergründen. Aber es gelingt der Filmemacherin auch, einen unkenntlich gemachten früheren israelischen Soldaten zu befragen, der von seinen Einsätzen in den besetzten Gebieten berichtet und ganz nebenbei eingesteht, viele Menschen getötet zu haben, von denen keineswegs alle „Terroristen“ gewesen seien. Sie hätten nachts nur so zum Spaß auf die Wassertanks der Palästinenser geschossen, mit denen diese ihre Trinkwasserversorgung sichergestellt hätten. Und dann sagt er weiter, es sei ein großes Vergnügen gewesen, dabei zuzusehen, wie die Tanks explodiert wären. Man ahnt schnell, dass diese zynische Sicht der Dinge sich nicht allein auf die Lebensgrundlagen der Bevölkerung bezieht, sondern auch auf die Menschen selbst – ob aus Selbstschutz oder als Folge einer menschenverachtenden Politik sei dahin gestellt.

Ohne Frage ist Simone Bittons Recherchearbeit beeindruckend und detailversessen — vor allem wenn es um die Fehler und Widersprüchlichkeiten innerhalb der Darstellung der Vorkommnisse seitens der israelischen Armee geht. Leider ist diese Akribie bei der Betrachtung der anderen Seite weniger stark ausgeprägt. Die Hintergründe des ISM werden nämlich ebenso wenig beleuchtet wie die versuchte Einflussnahme von palästinensischen Interessensgruppen wie der Hamas oder der Fatah-Organisation. Es sind diese Lücken, die ein leichtes Unbehagen bereiten, weil man ahnt, dass Idealisten wie Rachel im Spannungsfeld Nahost dazu prädestiniert sind, zu Schachfiguren zu werden. Was deren gute Absichten keinesfalls in Frage stellen soll.

„Lass mich wissen, wenn Du eine Idee hast, was ich sinnvoll mit meinem Leben anfangen kann“, zitiert der Film seine Protagonistin an einer Stelle aus einem Brief, den sie an ihre Eltern in den USA schrieb. Man spürt in diesem Moment förmlich ihren Wunsch, mit ihrem Handeln Gutes zu bewirken. Ob diese Sehnsucht Corries und anderer junger Menschen nicht vielleicht doch instrumentarisiert worden ist, diese Frage stellt der Film nicht, sondern beruft sich stattdessen auf das, wie es heißt „Gefühl einer tiefen Vertrautheit, einer Seelenverwandtschaft mit diesem jungen Mädchen“. Es hat beinahe den Anschein, als habe diese Nähe der Filmemacherin einiges an der notwendigen Distanz genommen.

Wenn am Ende des Films ein Freund und Gesinnungsgenosse Corries diese in einem Rap zur Heldin verklärt, bleibt ein mulmiges Gefühl zurück, eine unbestimmte Ahnung, dass die Wahrheit – sofern es denn eine geben sollte – in diesem Geflecht aus Lügen, Überzeugungen und Schuldzuweisungen möglicherweise komplexer und vielschichtiger aussehen könnte. Und das liegt nicht nur daran, dass es auch Simone Bitton schlussendlich nicht gelingt, die genauen Umstände von Rachels Tod zweifelsfrei darzulegen.

Rachel

Es ist der 16. März des Jahres 2003 in der Stadt Rafah im Gazastreifen. Mit orangefarbenen Warnwesten, wie man sie sonst vor allem von Bauarbeitern kennt, treten junge Menschen aus verschiedenen Ländern israelischen Bulldozern entgegen, die sich anschicken, palästinensische Häuser zu zerstören.
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