Mademoiselle Chambon

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

Eine Liebesgeschichte in beschwiegenen Gegensätzen

Jean (Vincent Lindon) ist Handwerker von ganzem Herzen, ein Mann, der Häuser baut, so wie es auch schon sein Vater getan hat. Stéphane Brizé zeigt ihn in Mademoiselle Chambon immer wieder mit Hämmern in der Hand, sei es, dass er mit dem Vorschlaghammer alte Wände niederreißt, sei es, dass er mit Nägeln Neues zusammenfügt.
Worte hingegen sind sein Werkzeug nicht. Gleich die zweite Szene zeigt ihn, nachdem man ihn vorher bei der Arbeit sah, mit Frau und Kind wohl im Garten sitzen, wie sie sich gemeinsam an Hausaufgaben zur französischen Grammatik versuchen, die Jérémy (Arthur Le Houérou) in der Schule bekommen hat. Jean hat sichtlich Mühe, die Frage zu verstehen, doch er müht sich redlich. In heutiger Diktion würden Politiker ihn womöglich als „bildungsfern“ bezeichnen, und kaum etwas könnte weiter am Kern seiner Persönlichkeit vorbeigehen.

Denn das heißt hier nicht viel: Die kleine Familie ist offenbar glücklich, und der wortkarge Jean verbringt viel Zeit mit seinem alten Vater (Jean-Marc Thibault), man sieht einmal, wie er ihm die Füße wäscht und wie er ihn in ein Bestattungsinstitut begleitet. Einen kleinen Moment gibt es da, als der Vater versonnen über das Holz eines ganz konventionellen, aber offenbar robusten Sargs streicht, in dem deutlich wird, dass in dieser Familie Wert gelegt wird auf ordentlich getane Arbeit.

Jean führt also, ist man geneigt zusammenzufassen, ein Leben von Bodenständigkeit und einfachen Ansprüchen, und wenn diesem Handwerker etwas fehlen sollte, so allenfalls die Sehnsucht nach etwas mehr.

Véronique Chambon (Sandrine Kiberlain) hingegen hat von solcher Sehnsucht womöglich zu viel; obgleich der Film ihren Namen trägt, erfährt man nur relativ wenig von ihr – und diese verschobene Perspektive erweist sich im Laufe des Films als durchaus nicht unproblematisch. Véronique ist Jérémys Grundschullehrerin und bittet Jean eines Tages, ob er nicht ihrer Klasse etwas von seiner Arbeit erzählen könnte; andere Eltern hätten das auch schon getan, damit sich die Kinder unter den unterschiedlichen Berufen etwas vorstellen könnten.

So erst lernen sie sich kennen, und die Inszenierung macht deutlich, dass es seine fast zärtliche Art ist, von seiner Arbeit zu sprechen – denn da fließen ihm auf einmal die Worte –, die Véronique fasziniert. Da ist eine Beredtheit von sich selbst, die ihr fehlt; aber womöglich fehlt ihr auch nur ein Gegenüber, eine Anwesenheit. Einmal arbeitet er lautstark im Nebenzimmer, da schläft sie ruhig ein, als fehle ihr genau solcher Lärm.

Diese Szene ist zugleich eine Schlüsselszene dafür, wie sehr der Film seine beiden Protagonisten als Gegensätze präsentiert und inszeniert. Nach seinem kurzen Auftritt in der Schule hatte sie ihn gefragt, ob er nicht nach einem ihrer Fenster sehen könne, das undicht sei. (Nur wer nicht weiß, wie schwierig es in Frankreich sein kann, einen guten Handwerker zu finden und zügig zur Arbeit zu bewegen, kann diese Form der Auftragserteilung seltsam finden.) Und während er arbeitet, versucht sie (bevor sie einschläft) desgleichen: Er mit den Händen, Bewegung und Geräuschen, sie still und fast regungslos über ihren Büchern.

Die Faszination der beiden voreinander speist sich natürlich vor allem aus ihren Gegensätzen – das war schon immer eine der großen Triebkräfte des Romantischen im Kino, von Screwball Comedy bis todernster Tragödie. Mit Mademoiselle Chambon will Brizé, der vorher etwa Man muss mich nicht lieben gedreht hatte und nun den gleichnamigen Roman von Eric Holder adaptiert hat, gar nicht so hoch hinaus. Die Gefühle mögen stark und verwirrend sein, aber Brizé macht daraus kein großes Drama, entwirft keine Geschichte von überwältigender Verzweiflung und undurchdringlichem Schmerz. Eher ist dies ein Film über das Zögern, das vorsichtige Tasten, über Zurückhaltung und womöglich auch Angst.

Mademoiselle Chambon erfüllt auch keineswegs jenes Klischee vom französischen Beziehungsdrama, in dem unendlich viel besprochen, beredet und zerredet wird. Dafür sind die Protagonisten dieses Films viel zu ungeübt in den Sprachen der Liebe oder des Begehrens – selbst in freundschaftlichen, gar intimen Momenten bleiben sie bei der Anrede mit dem höflichen, aber auch etwas distanzierten „Sie“. Jean und Véronique können sich allenfalls über Gesten und Taten ausdrücken – aber darin steckt immer noch etwas mehr die Gefahr verborgen, nicht oder falsch verstanden zu werden.

Genau dieser Gefahr unterliegt jedoch auch die Inszenierung. Ihr gelingt es zwar vortrefflich, Bilder für die Gegensätze zwischen den beiden Figuren zu finden, was sie verbinden könnte, bleibt oft jedoch bloße Behauptung, Vermutung oder Suggestion. Dadurch verliert das Drama der widerstreitenden Gefühle, das sich angeblich in Jean abspielt, deutlich an Kraft, was Film wie Beziehung fast unterkühlt wirken lässt. Zudem kommen dem Film ausgerechnet seine Hauptdarsteller in die Quere, denn Lindon und Kiberlain waren einmal ein Paar, leben aber mittlerweile getrennt – zumindest für einen Teil des französischen Publikums dürfte das ein stets mitschwingender Gedanke gewesen sein.

Vor allem aber verstecken sich hinter der Geschichte dieses Mannes, der die Aufregung des neuen Glücks gegen die Gleichförmigkeit des Bestehenden abwägen muss, zwei viel größere Geschichten, die der Film nur in Andeutungen sowie, natürlich, Blicken und Gesten zu erzählen wagt. Da ist zum einen das Leben von Mademoiselle Chambon selbst, dieser einsamen Frau, die offenbar trotz vieler Niederlagen ihren Weg weitergeht.

Zum anderen wüsste man gerne mehr von Jeans Frau Anne-Marie (Aure Atika); sie erlebt Jean und Véronique nur bei einer Gelegenheit zusammen, begreift aber offenbar sofort – nachdem Jean vorher plötzlich unzufrieden mit seinem Leben und reizbar geworden war –, dass zwischen den beiden etwas geschieht, über das sie keine Macht hat. Ein langer Blick von ihr ist alles, was der Zuschauer darüber erfährt – aber es wäre aufregend, diesen Blick als Ausgangspunkt eines Filmes zu sehen, nicht als Randnotiz.

Mademoiselle Chambon

Jean (Vincent Lindon) ist Handwerker von ganzem Herzen, ein Mann, der Häuser baut, so wie es auch schon sein Vater getan hat. Stéphane Brizé zeigt ihn in Mademoiselle Chambon immer wieder mit Hämmern in der Hand, sei es, dass er mit dem Vorschlaghammer alte Wände niederreißt, sei es, dass er mit Nägeln Neues zusammenfügt.
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Meinungen

Martin Zopick · 06.07.2023

Ein kleiner, unspektakulärer Film, dessen Inhalt auch nicht gerade neu ist: verheirateter Maurer (Vincent Lindon) verliebt sich in die Lehrerin seines Sohnes (Sandrine Kiberlain) Er baut ein Fenster ein, sie spielt ihm Edward Elgar auf der Geige vor. Der Originaltitel bezieht sich allerdings nur auf die halbe Wahrheit, denn zur Liebe gehören immer noch zwei.
Ein kontrastreicher Anfang mit Baulärm und Presslufthammer, gefolgt vom typischen Hausaufgabentrauma heutiger Eltern (Akkusativobjekt bestimmen!?). Dann geht’s eindimensional auf der emotionalen Ebene weiter. Die langen, wortlosen Pausen verdeutlichen die Gedankengänge der Akteure, ihre inneren Kämpfe mit sich selber. Sie träumt vor sich hin, schwankt wohl zwischen hoffnungsvoller Erwartung und realistischem Frust, er ist nicht bei der Sache und grantelt daheim und auf der Arbeit. Dazu hört man Kammermusik, die in die nachfolgenden Szenen mitfließt. Frau will klare Verhältnisse und bewirbt sich weg. Nach einem (nur einem) gemeinsamen Betthupferl mit einer versteckten Träne kommt es zum spannenden Finale ohne Worte. Lange bleibt die Frage im Raum: Kommt er oder kommt er nicht? Fährt er mit ihr weg oder bleibt er bei Frau und Sohn? Regisseur Stèphane Brizé spielt zum Schluss ausgedehnt mit den Erwartungen der Zuschauer, bevor er die Frage sachlich kühl beantwortet. Die Kamera schaut distanziert durch ein Fenster, bevor sie sich diskret verabschiedet. Statt Action gibt es eine emotionale Volldusche: leise, zart und schön.

Nela Hitzler · 14.01.2015

Ich habe den Film gestern gesehen und kann mich dem Kommentar von Julia Balzer nur anschließen. Berührend und einfach wundervoll: Das sensible und stille Kammerspiel der beiden Protagonisten, die durch Gesten und Mimik, ihre Körpersprache.soviel mehr ausdrücken als Worte das jemals könnten. Die stillen Momente sind hier inhaltsschwer und wohltuend. Die wunderbare Musik tut ihr Übriges dazu, um einen mitfühlen zu lassen. Seelenverwandte, die sich begegnen und ineinander verlieben, können nicht zusammenkommen, weil es die äußeren Umstände zu diesem Zeitpunkt nicht (mehr oder noch nicht) zulassen. Der Gewissenskonflikt in dem sich die Liebenden dann oft befinden, wird hier beeindruckend dargestellt. Das passiert doch im wahren Leben auch immer wieder. Unbedingt anschauen, wenn man die feinen Zwischentöne mag. Ich liebe diesen FIlm.

julia balzer · 24.11.2011

Also für mich ist das einer der schönsten Filme der Neuzeit und ich möchte mal behaupten ich habe schon einige gesehen. Wie der Regisseur die Liebe der beiden, darstellt, so fein, so unaufdringlich so leise, sehr schön. Natürlich hätte das ganze auch nach hinten los gehen können, passiert aber durch die wundervollen schauspieler nicht und dann fast zum Schluss kommt diese Schlüsselszene, wo wirkliche Filmkunst gezeigt wird, einer der besten Filmszenen die gedreht wurden, leider kann ich nicht genauer darauf eingehen, weil ich dann das ende verraten würde. Aber ich kann den Film nur jeden ans Herz legen. Sehr sehr schön.