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La telenovela errante — etwa: Die ziellose Seifenoper — ist der letzte Film des Chilenen Raúl Ruiz. Darin führt er die Absurditäten der chilenischen Gesellschaft und Politik vor, indem er sie als seicht-kitschige und billig produzierte Soap Opera imaginiert.

La Telenovela Errante (2017)

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Das Leben als Seifenoper

Als der chilenisch-französische Regisseur Raúl Ruiz 2011 starb, dachte niemand an die auf 16mm-Material gedrehten Fragmente, die irgendwo in seiner Schublade schlummerten. Ruiz hatte sie während eines sechstägigen Schauspielworkshops in Chile aufgenommen – da war der Diktator Augusto Pinochet gerade abgesetzt und der Filmemacher aus dem französischen Exil in sein Heimatland zurückgekehrt.

Ruiz’ Witwe, die Cutterin und Filmemacherin Valeria Sarmiento, stellte kurz nach dem Tod ihres Mannes dessen Film Lines of Wellington — Sturm über Portugal fertig. Bis sie die Aufnahmen von 1990 wiederentdeckte, sollte es allerdings noch 27 Jahre dauern.

„Wenn du dich in diesem Leben schlecht benimmst, wirst du im Nächsten als Chilene geboren“, so ist eines der sieben Kapitel des Films überschrieben. Das gibt direkt den Ton vor. La telenovela errante ist lose von Schwarz-Weiß-Aufnahmen eingerahmt, die Ruiz 1990 am Set zeigen – im Kern besteht er aber aus den sieben Kapiteln, die an einzelne Episoden verschiedener Seifenopern erinnern. Besonders in den südamerikanischen Ländern erfreut sich das Format der Telenovela mit ihren zumeist seichten Geschichten voller zwischenmenschlicher Dramatik großer Popularität. In La telenovela errante ist so etwas wie eine Haupthandlung aber schwer auszumachen. Tatsächlich stellt sich mit zunehmender Laufzeit das Gefühl ein, im Fernsehen zwischen verschiedenen Seifenopern hin und her zu schalten. Man ahnt schon: es gibt eine Handlung, erkennt manche der Figuren in verschiedenen Episoden wieder. Aber es fehlen einem die Enden der Fäden, der Überblick über die genauen Zusammenhänge. Im Film wird in bedeutungsschwangeren Worten über die Liebe gesprochen, einander beschossen, gefoltert, getrunken, werden in bourgeoisen Settings Scheidungen oder wirtschaftliche Reformen beschlossen. Dabei scheinen die Figuren in ihrem verschachtelten TV-Universum irgendwann auch selbst den Verstand zu verlieren: sie sehen selbst ständig fern, besuchen sich gegenseitig in – wie sie es nennen – „benachbarten Telenovelas“, vergessen, in welcher Sendung sie sich gerade befinden oder dass sie in der Vergangenheit aufgetaucht sind.

Das Ergebnis ist ein rätselhaftes, ein beinahe surreales und zunehmend absurdes Konstrukt. Absurd jedoch nur, weil es so viele Parallelen und Entsprechungen in der chilenischen Gesellschaft und Politik während und nach Pinochet gibt. Raúl Ruiz scheint weder das Konzept der Seifenoper noch ihre Macher oder ihre Zuschauer zu verachten. Im Gegenteil, er nimmt sie überaus ernst; persifliert sie nicht, sondern imitiert die Mittel der Seifenoper für seine künstlerische Beweisführung. Das Fernsehen ist ihm das zentrale Medium dieser Gesellschaft – aber weniger als Informationsmedium, denn als Übermittler von Propaganda, Show, Berieselung. Die Qualität der einzelnen Episoden in La telenovela errante variiert, außerdem ist es ihnen anzusehen, dass kaum finanzielle Mittel zur Verfügung standen. Ruíz macht aus dieser Not jedoch eine Tugend: eine Autofahrt zweier Männer, humoristisches Highlight des Films, wurde offensichtlich in einem Studio gedreht: die Kamera rückt ganz nah an das geöffnete Beifahrerfenster heran, die Männer rutschen auf ihren Sitzen umher, um die Bewegungen des Autos zu simulieren. Schließlich werden sie von zwei anderen Männern erschossen – und diese wiederum von weiteren Männern. Wir erfahren nichts über die Motive dieser Morde und die Figuren scheinen die Gründe für ihr Verhalten ebenfalls nicht zu kennen.

Später sitzt eine Frau vor dem Fernseher. Schreie sind daraus zu vernehmen, aber wir sehen nur ihr angewidertes Gesicht: „Man sollte keine Seifenopern erlauben, in denen sie Kapital aus menschlichem Schmerz schlagen“, presst sie hervor. Solche Forderungen sind im Film häufig zu hören: die Leute schauen zwar, was immer ihnen vorgesetzt wird, aber nicht ohne regelmäßig Absetzungen oder gar Verbote zu fordern. La telenovela errante ist das Portrait einer Gesellschaft, die schon so sehr auf Repressalien konditioniert ist, dass sie sie selbst einfordert, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. In der jeder wissentlich eine Maske trägt, eine Rolle spielt – und sich gerade deswegen alle gegenseitig überwachen. Oder in Ruíz’ eigenen Worten: „Eine chilenische Realität existiert nicht. Sie ist nur ein Ensemble von Seifenopern.“

La Telenovela Errante (2017)

Das Konzept von „La telenovela errante“ basiert auf der Annahme, dass die chilenische Realität nicht existiert, sondern vielmehr den Gesamteindruck von Seifenopern macht. Es gibt vier audiovisuelle Provinzen, wobei die schwelende Kriegsgefahr zwischen den Parteien spürbar ist. Die politischen und ökonomischen Probleme werden in eine fiktionale Gallerte getaucht, die in zwei Abendepisoden aufgeteilt ist. Die ganze chilenische Realität wird aus der Seifenopernsicht beleuchtet, die durch diesen Filter betrachtet gleichsam entlarvt wird.

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