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Melanie Gärtners Dokumentarfilm „Yves’ Versprechen“ feierte seine Weltpremiere 2017 beim International Documentary Festival in Amsterdam in der Wettbewerbskategorie für den besten Erstlingsfilm. Glamouröser geht es für Dokumentarfilm-Verhältnisse kaum. Wird der Film den Erwartungen gerecht?

Yves' Versprechen (2017)

Eine Filmkritik von Ines Meier

Nicht vor und nicht zurück

Der Dokumentarfilm Yves’ Versprechen von Melanie Gärtner verspricht eine kaum beachtete Perspektive auf das große Thema Flucht und Migration nach Europa. Yves stammt aus Kamerun. Er kommt aus ärmlichen Verhältnissen, ist eins von sechs Kindern, seine Mutter ist jung verstorben. Yves ist der einzige seiner Geschwister, der die Schule besucht hat, mehr konnte sich seine Familie nicht leisten. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten ist er bereits acht Jahre unterwegs. In der Hoffnung auf ein besseres Leben hat er sein Heimatland Richtung Europa verlassen. Seitdem hatte er keinen Kontakt zu seiner Familie. Er sitzt in Spanien fest, ohne Chance auf Asyl. Warum gibt er nicht auf und geht nach Kamerun zurück? Welche Folgen hat Yves’ Flucht für seine Familie, wie gehen sie mit der Situation um, welche Erwartungen haben sie an ihn?

Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen begleitet die Autorin und Regisseurin Melanie Gärtner Yves in Spanien und reist zu seiner Familie nach Kamerun. Am spanischen Strand erzählt Yves von der Vergewaltigung seiner Tochter. Trotz Anzeige – Kamerun gehört zu den korruptesten Ländern der Welt – konnte der Mann sich freikaufen. Weil er es nicht ertragen konnte, dass der Vergewaltiger seiner Tochter frei herumlief, „besuchte“ Yves ihn mit Freunden und verließ danach sein Land. So schrecklich diese Geschichte ist, Yves’ Auslassungen werfen Fragen auf: Warum sah er sich genötigt, nach diesem „Besuch“ sein Land zu verlassen? Wieso lässt ein Vater seine Tochter, die kurz zuvor vergewaltigt wurde, zurück?

Die zweite Frage wird im Film nie thematisiert. Die erste beantwortet später seine Schwester Annie: Yves kam ins Gefängnis, weil er den Vergewaltiger seiner Tochter verprügelte. Mit allem Geld, was sie besaß, kaufte seine Schwester ihn frei. Nach seiner Freilassung fragte Yves Annie: „Wie lange noch dieses Elend?“. Kurz darauf verließ er das Land, ohne seine Familie zu informieren. Durch Annies Version der Geschichte ahnt man Yves’ emotionale Gemengelage aus Schuld, Scham und Verantwortungsgefühl gegenüber seiner Familie.

Die Stränge dieses Geflechts erhellen Yves’ Videobotschaften, die er mit Melanie Gärtner für seine Familie und seinen besten Freund aufnimmt. Die Regisseurin bringt seine Botschaften nach Kamerun und wird dadurch zur Vermittlerin. Yves’ Botschaften ähneln sich. Er entschuldigt sich, dass er sich noch nicht gemeldet hat und noch nichts tun kann. Er verspricht zu helfen, sobald es ihm möglich ist. Er versichert, dass er niemanden vergessen hat und eines Tages zurückkehren wird. Seine Familie reagiert bewegt. Über ihre Erwartungen an ihn sagen sie: Sie würden sich freuen, wenn er ein Telefon hätte, damit sie mit ihm sprechen können. Sein Vater wünscht sich ein Hörgerät. Klare Worte für das, was in der Familie zwischen den Zeilen bleibt, findet Yves’ bester Freund Sylvain. Wenn du zurückwillst, erklärt er der Regisseurin, brauchst du Geld, denn es wird erwartet, dass du deine Familie unterstützt. Käme Yves ohne Geld zurück, würden sich die meisten Leute über ihn lustig machen und fragen, was er eigentlich die ganze Zeit in Europa gemacht habe.

Wie übermächtig diese Scham sein muss, an Europa zu scheitern, wird angedeutet, wenn Yves erzählt, wie er nach seiner Abschiebung in Kamerun aus dem Flugzeug stieg. Sich ein paar Tage versteckt hielt und dann sofort wieder aufbrach nach Marokko. Yves erzählt diese Episode knapp und sachlich, eigentlich nebenbei. Statt der Tiefe und Tragik dieser Geschichte einen Raum zu öffnen, vergibt Melanie Gärtner hier eine Chance, ihrem Protagonisten näher zu kommen. Yves hatte jahrelang keinen Kontakt zu seiner Familie, er vermisst sie, er will in Europa Geld verdienen, um sie zu unterstützen. Er hat sich durch die Wüste und über das verdammte Mittelmeer zu diesem Hoffnungs-Kontinent durchgekämpft, hat keine Chance, jemals legal arbeiten zu dürfen, wird aufgegriffen und zurück nach Kamerun gebracht. Und hat das Gefühl, seiner Familie und seinen Freunden nicht gegenüber treten zu können und keine andere Wahl zu haben, als innerhalb von wenigen Tagen wieder aufzubrechen? Wenn man nur ein paar Minuten versucht, sich in diese Situation zu versetzen, zerreißt es einem glatt das Herz.

Man wünscht diesem Dokumentarfilm das Beste, seine Perspektive ist relevant und besonders, Yves als Hauptprotagonist sympathisch und nahbar. Dass Yves’ Versprechen trotzdem zerrissen wirkt, liegt an der Vielzahl der Protagonisten, denen er gerecht werden will, und an der unentschiedenen Vorsicht der Regisseurin. Yves’ Versprechen muss sich trotz der verlagerten Perspektive mit Jakob Preuss’ Dokumentarfilm Als Paul über das Meer kam vergleichen lassen. Beide hatten im selben Jahr ihre Festivalpremiere. Wie Yves ist auch Jakob Preuss’ Protagonist Paul aus Kamerun, beide haben die Route über Algerien nach Marokko gewählt, sich gegen die Überwindung des berüchtigten Grenzzauns bei Ceuta und für den Weg über das Mittelmeer entschieden. Yves’ Versprechen könnte Pauls Geschichte sein, wenn Paul in Spanien geblieben wäre, statt sich mit Hilfe des Regisseurs auf den Weg nach Deutschland zu machen.

Melanie Gärtner beschreibt in einem Interview, das dem Presseheft beiliegt, die Herausforderung, ihre eigene Rolle im Film auszuhandeln. Sie sei Regisseurin, Freundin, Repräsentantin von Yves und nicht zuletzt auch einfach eine Europäerin gewesen. Sie habe versucht, transparent mit den Erwartungen von Yves an sie umzugehen. Jakob Preuss beschreibt diese Herausforderungen ähnlich, verhandelt sie aber so offensiv persönlich und politisch im Film, dass er selbst zu einem zentralen Protagonisten wird. Gärtner taucht einige wenige Male in ihrem Film auf und kommentiert hin und wieder zurückhaltend die Ereignisse aus dem Off. Wie vieles in diesem leisen, zurückhaltenden Film, entwickeln sich aber auch ihre eigenen Rollen, die sie im Interview anspricht, über Andeutungen nicht hinaus.

Yves' Versprechen (2017)

Yves sitzt in Spanien fest. Es geht weder vorwärts noch rückwärts. Er ist vor acht Jahren in Kamerun aufgebrochen, um in Europa ein neues Leben zu beginnen. Seitdem hat die Familie nichts von ihm gehört. Die Filmemacherin Melanie Gärtner nimmt Videobotschaften von Yves auf, reist nach Kamerun und trifft seine Familie: Seine Schwester Annie übernimmt die Rolle der Mutter und hält die Familie zusammen, der Vater ist krank und braucht dringend Medikamente, der jüngere Bruder übernimmt keine Verantwortung für sein Leben. Bei all der Erleichterung über das Lebenszeichen von Yves werden Erwartungen wach, schließlich hat Yves es ins gelobte Europa geschafft. Sie nehmen ihrerseits Videobriefe für Yves auf. 

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