Yasujiro Ozu Edition

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Kleine Momente in einer großen Welt

Es gab wohl keinen Filmemacher auf der Welt, dem die alltägliche, menschliche Erfahrung so heilig war wie Yasujirō Ozu. Wenn er Figuren filmte, positionierte er seine Kamera stets nur knapp über dem Boden. So sehen wir als Zuschauer auch zu den einfachsten, kleinsten und schwächsten Menschen auf. Koch Media hat dem Regisseur, der als wohl der japanischste seiner Profession gilt, nun eine Sammlung gewidmet. Diese trägt den Namen Yasujiro Ozu Edition und versammelt sieben Filme aus der frühen Schaffensphase des Autorenfilmers in einer Box.
Enthalten sind Produktionen von 1934 bis 1952. Ozus erster Film erschien bereits 1927. Von den 53 Filmen, die er während seiner Karriere drehen sollte, erschienen 26 bereits in den ersten fünf Jahren als Regisseur. Ein großer Teil von ihnen ist leider dem zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen.

Die Sammlung setzt also in einer Phase der verstärkten Konzentration ein, denn ab Mitte der 30er Jahre produzierte der Filmemacher meist nur noch einen Film pro Jahr (anstatt vier wie 1932 oder gar sieben im Jahr 1930). Die Kollektion stellt den Versuch dar, Ozus Wachstum als Künstler bis hin zu seinem Meisterwerk Die Reise nach Tokyo (1953) nachzuvollziehen. Naheliegend, kulminiert doch in der Geschichte über ein älteres Ehepaar, Shūkichi und Tomi Hirayama, die beschließen ihre Kinder in Tokio zu besuchen, nahezu alles, was der Regisseur bis dahin geschaffen hat. Donald Richie, der Autor von Ozu: His Life and His Films erklärt: „Yasujiro Ozu hatte nur ein Thema: Die japanische Familie und ihren Zerfall.“

Das trifft auch auf den ersten Film der Kollektion, Der Wanderschauspieler (Ukigusa monogatari) von 1934, zu. Das Drama handelt von einem erfolgreichen Kabuki-Schauspieler, der mit seinem Wandertheater durch Japan zieht. Bei einem Halt in einer Provinzstadt besucht er eine ehemalige Geliebte, mit der er vor einigen Jahren einen Sohn gezeugt hat. Erzürnt darüber, dass er keine Reue darüber zeigt, sie verlassen zu haben, sinnt sie auf Rache. Dass Ozu die Geschichte am Herzen lag, wird daran deutlich, dass er den Film 25 Jahre später neu auflegte, diesmal mit Ton und in Farbe. Doch das schwarz-weiße Original ist genauso wundervoll anzusehen, verströmt eine ruhige Eleganz und hat reichhaltige Texturen und faszinierende Figuren zu bieten.

Eine Herberge in Tokio (Tokyo no yado) von 1935 erzählt die Geschichte eines Vaters auf Arbeitssuche und seiner zwei Söhne. In einer Gesellschaft wie der japanischen, die wie keine sonst von Traditionen und einer durch Alter und Erfahrung geprägten Hierarchie geprägt ist, schenkt Ozu ausgerechnet einem Arbeitslosen und zwei Kindern seine Aufmerksamkeit. In Amerika nimmt sich Charlie Chaplin mit Filmen wie The Kid oder City Lights ähnlichen Figuren an – nur das Ozu dessen unerschütterlichen Optimismus nicht teilt. Vielmehr liefert er eher einen frühen Beitrag zum Neorealismus.

Der einzige Sohn (Hitori musuko) war 1936 Ozus erster Tonfilm. Seine Begeisterung für das neue Format ist spürbar, er baut Musik- und Gesangssequenzen ein. Seine Figuren, wie etwa der Lehrer einer Landschule, der den Sohn einer Witwe zum Studieren ermutigt, haben so viel zu erzählen, wie nie zuvor. Dabei macht die Handlung in der Mitte einen großen Zeitsprung, dreizehn Jahre später ist der ehemalige Schüler plötzlich selbst zum Lehrer geworden. Ozu holt die Vergangenheit in die Gegenwart und wiegt den Wunsch nach Karriere, Bildung und Selbstverwirklichung auf kluge Art und Weise gegen die Loyalität zur eigenen Familie ab.

Auch Die Geschwister Toda(Toda-ke no kyōdai, 1941) beschreibt anhand einer Familie, die durch den Geburtstag des Familienpatriarchen zusammenkommt, dieses Spannungsverhältnis zwischen Angehörigen und kommerziellen Anliegen. Als der Vater an einer Herzattacke stirbt, hinterlässt er seinen Söhnen einen großen Schuldenberg. Wie sollen sie mit einem solchen Vermächtnis umgehen?

Erstmals schwappt hier auch die politische Realität merklich in Ozus Filme über. In den späten 30er Jahren wuchs der Einfluss der japanischen Regierung auf die lokale Filmindustrie erheblich, der Staat drängte auf propagandistische Melodramen und Dokumentarfilme (so genannte bunka eiga — „Kulturfilme“). Eine kritische Haltung wurde unterbunden, nationalistische Ideologien und expansionistische Eroberungsgelüste beherrschten die Kriegsepoche. Der zweite Japanisch-Chinesische Krieg war seit 1937 im vollen Gange. Einer der Söhne flieht vor seiner Verantwortung nach Tianjin: Ein Sinnbild für den schadhaften Einfluss des Krieges auf die Familie. Ozu war selbst in die Kaiserliche Japanische Armee eingezogen worden und hatte zwei Jahre lang in China gekämpft.

Das Drehbuch zu Der Geschmack von grünem Tee über Reis (Ochazuke no aji) hatte er schon 1939 geschrieben, doch als die Zensur des Militärs Änderungen verlangte, legte er das Drehbuch erst einmal auf Eis. Es war einmal ein Vater (Chichi ariki) von 1942 war da deutlich gefälliger und wurde sowohl von Kritikern als auch der japanischen Regierung gelobt. Das Drehbuch über einen armen Lehrer, der versucht seinen Sohn zu erziehen, begann er noch vor seinem Kriegsdienst zu schreiben. Ob Ozu jedoch wirklich hinter dem Kaiser und der faschistischen Ideologie stand, ist mehr als fragwürdig: Seine Filme zeigen ein zutiefst humanistisches Weltbild, in dem gerade Fürsorge und Empathie einen besonderen Stellenwert erhalten. Als er 1943 ein zweites Mal von der Armee eingezogen wurde, um einen Propagandafilm zu drehen, verbringt er seine Zeit in Singapur vor allem damit, Tennis zu spielen und amerikanische Filme anzuschauen.

Im nachfolgenden Werk spürt man deutlich die Erfahrung des Krieges und die neuen, internationalen Einflüsse: Weizenherbst (Bakushū) von 1951 erzählt von der 28-Jährigen Noriko, die von ihrer Familie gedrängt wird, endlich zu heiraten. Der Film folgt keiner stringenten Handlung, sondern schildert kleine Episoden, die sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Ozu hat auf das Japanische nun einen deutlich kritischeren Blick, die Familie in ihrer traditionellen Form ist erstmals nicht nur eine Institution der Geborgenheit, sondern kann auch die Wünsche des Individuums unterdrücken. Weizenherbstist Teil der sogenannten Noriko-Trilogie (neben Weizenherbst auch Später Frühling und Die Reise nach Tokyo).

1952 konnte Ozu dann auch das Skript zu Der Geschmack von grünem Tee über Reis endlich umsetzen. Er beschreibt eine unglückliche Ehe, das Paar in der Mitte der Handlung driftet immer weiter auseinander. Ein Thema: „Die japanische Familie und ihr Zerfall.“

Mit der Yasujiro Ozu Edition wird Koch Media dem Namen Masterpieces of Cinema durchaus gerecht. Die gewählten Filme repräsentieren deutlich, was den Großmeister Yasujirō Ozu in seinen frühen Schaffensphasen ausmachte. Wer sich mit seinem Werk vertraut machen will, findet hier eine überzeugende Hinleitung zu späteren Meisterwerken. Sicher, in Gänze können gerade einmal 7 von über 50 Filmen nicht darlegen, warum Ozu auch heute noch in aller Welt geliebt und geschätzt ist. Mark Cousins, der Kritiker und Regisseur hinter A Story of Film sieht in Ozus Art zu drehen das wahre „klassische“ Kino. Was in Hollywood ohne mit der Wimper zu zucken geschnitten würde, Zwischenbilder und Zwischentöne, wird hier zelebriert und sogar zum wesentlichen Element des Kinos. Der finnische Regisseur Aki Kaurismäki erklärt: „Was ich am meisten bewundere, ist dass Ozu niemals auf Gewalt oder Mord zurückgreifen muss, um alles, was bedeutsam ist, über das menschliche Leben zu erzählen.“ Yasujirō Ozu zeigt in seinen Filmen kleine Momente aus einer großen Welt, ein Pars pro toto der menschlichen Erfahrung. Diese Augenblicke werden wohl niemals ihre Bedeutung verlieren.

Yasujiro Ozu Edition

Es gab wohl keinen Filmemacher auf der Welt, dem die alltägliche, menschliche Erfahrung so heilig war wie Yasujirō Ozu. Wenn er Figuren filmte, positionierte er seine Kamera stets nur knapp über dem Boden. So sehen wir als Zuschauer auch zu den einfachsten, kleinsten und schwächsten Menschen auf. Koch Media hat dem Regisseur, der als wohl der japanischste seiner Profession gilt, nun eine Sammlung gewidmet. Diese trägt den Namen „Yasujiro Ozu Edition“ und versammelt sieben Filme aus der frühen Schaffensphase des Autorenfilmers in einer Box.
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