Wir sind was wir sind

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

Am unteren Ende der sozialen Hackordnung

Natürlich fragt man sich ab und an, was in anderen Familien – in anderen Kulturen, sozialen Schichten zudem, und was der unterscheidenden Marker noch alle sind – für Rituale gepflegt werden, in einem ganz wörtlichen Sinn: Handlungen, deren Verlängerung und Weitergabe sich die Familie zur Aufgabe gestellt hat, selbst wenn die Bedeutung des Rituals nur denen überhaupt verständlich ist, die daran unmittelbar beteiligt sind.
So fühlt man sich beim Betrachten von Wir sind was wir sind / Somos lo que hay, dem ersten Langfilm des mexikanischen Regisseurs Jorge Michel Grau, der auf ein solches womöglich längst sinnentleertes Ritual zuläuft, dessen Durchführung hier Motivation für alles andere ist und das dennoch für die Kamera nie vollzogen oder jedenfalls abgeschlossen wird. Für die den Ritus ausführende Familie – Eltern und drei erwachsene Kinder – scheint es von enormer Wichtigkeit zu sein, aber warum, wird nie erklärt; der Zuschauer wird stets in einer Distanz zu den Handlungen (nicht den Ereignissen) gehalten, die ihm alles fremd erscheinen lassen, gelegentlich exotisch faszinierend: Gerade weil es uns sinnlos, befremdlich scheinen muss, und doch den Protagonisten alles ist.

Der Vater der Familie stirbt in den ersten Minuten des Films, in einem Einkaufszentrum wirkt er, ungepflegt und in schmutziger Kleidung, sofort wie ein Fremdkörper. Und als er dann schwarzen Schleim erbricht und leblos zusammenbricht, widmet man ihm sich keineswegs kümmernd: Ein paar Wachleute zerren seinen Körper fort, aus dem Sichtfeld der Kundschaft, und ein Reinigungstrupp steht sofort bereit, sich der schwarzen Masse anzunehmen. Es wirkt so, als seien derartige Tode keine Seltenheit und die Person des Sterbenden dabei die geringste Sorge.

Schon in der ersten Szene macht Grau so klar, dass sein Film ein Gesellschaftsportrait sein will, dass davon handelt, wie wenig das Leben des Einzelnen wert sein mag in der gegenwärtigen mexikanischen Gesellschaft. Aber so sehr man darin Konsum- und Sozialkritik lesen kann: Der Regisseur verweist damit eher auf George A. Romero als auf Michael Moore, und arbeitet sich nicht an der gut versorgten Mittelklasse ab, sondern an den aufs Fundamentale reduzierten Bedürfnissen der Menschen am unteren Ende der sozialen Hackordnung.

Welche zugleich dabei sind, die Ordnung der Nahrungskette anders zu gestalten. Während daheim die Tochter Sabina (Miriam Balderas) ihre Brüder dazu antreibt, so weiterzumachen wie bisher, und damit ihrer Mutter Patricia (Carmen Beato) die Führung der Familie streitig macht, findet ein Pathologe im Verdauungstrakt des Toten den für Publikum und Polizei den Finger einer Frau.

Kannibalismus also: Darum scheint es im Ritual der Familie zu gehen, das zugleich banale Nahrungsbeschaffung verspricht, weil der Verkauf und die Reparatur von Uhren offenbar nicht besonders viel Geld abwerfen. Deshalb macht sich der ältere Bruder Alfredo (Francisco Barreiro) natürlich wirklich auf die Suche nach einem neuen Opfer, und es wird nur allzu schnell deutlich, dass sein Vater ihm nie beigebracht hat, wie er dabei vorgehen sollte. Und so sind die Traditionen, die von Mutter und Tochter beschworen werden, offenbar leere Formeln ohne tatsächliche Tradierung, und es wird umso fraglicher, ob das Ritual mehr ist als reine Zubereitung; dass es in Wir sind was wir sind nie ganz ausgeführt wird, verstärkt diesen Eindruck noch.

Familie, Traditionen und gesellschaftlicher Zusammenhalt sind in Graus Film nur noch leere Behauptungen, die mühsam die Grausamkeit, vor allem aber Haltlosigkeit dahinter verbergen. (Es lagern in den dunklen Kellerräumen der Stadt außerdem noch unterdrückte sexuelle Neigungen, Inzest und unmenschliche Gleichgültigkeit, und das fortwährende Ticken der zahllosen Uhren im heruntergekommenen Haus der namenlosen Familie ist der mechanische Gleichschritt, in dem wir dennoch nebeneinander weiter existieren.)

Dass die Polizei sich in dieser Welt nicht aus Selbstlosigkeit oder Gerechtigkeitssinn um die Morde der Familie kümmert, versteht sich fast von selbst: Ihnen geht es darum, vielleicht vom Präsidenten belobigt zu werden, vielleicht noch um die Möglichkeit, sich einen kleinen Aufstieg aus der jetzigen miserablen Existenz in eine etwas besser gestellte zu ermöglichen.

Wir sind was wir sind gelingt dabei das Kunststück, scheinbar nur wenig von den Protagonisten zu erzählen und doch sehr viel zu offenbaren. Das verdankt er natürlich den intensiven Leistungen der Schauspieler (allen voran Beato und Barreiro), aber auch der dichten Atmosphäre, die die Verzweiflung spürbar macht, die in dieser fast durchgehend in dunklen Brauntönen gefilmten Welt herrscht.

Und wie um das Schicksal aller Protagonisten des Filmes, der 2010 in Cannes auf der Quinzaine des Realisateurs zu sehen war und auf zahlreichen nordamerikanischen Festivals Preise gewonnen hat, zu spiegeln und seine sozialkritische Positionierung zu bestätigen, setzte das Leben noch eine grausame Note oben drauf: Im Dezember 2009 und kurz nach Fertigstellung des Filmes wurde der Darsteller des jüngeren Bruders Julián, Alan Chávez, nach einem gewaltsamen Streit mit Bekannten bei einer Schießerei von der Polizei getötet.

Wir sind was wir sind

Ein Mann stirbt und lässt seine Frau und drei Kinder mittellos zurück. Nicht nur muss die Familie mit dem Verlust fertig werden, sie steht auch noch vor einer großen Herausforderung, denn sie sind Kannibalen. Bisher lebten sie von menschlichem Fleisch, dass sie in blutigen Zeremonien verzehrten und die Opfer beschaffte stets der Vater. Wer soll ihn nun ersetzen? Die Wahl fällt auf den ältesten Sohn Alfredo, der damit überhaupt nicht einverstanden ist.
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Meinungen

Wissentlich · 02.11.2011

Absurde Handlungswendungen, unglaubwürdige Charaktere, grenzdebile Dialoge. Wofür genau wurde der Film denn ausgezeichnet?

Jasmin · 09.09.2011

Es sollte nachdenklich machen, wenn ein Film, der davon handelt, wie eine Familie Menschen tötet und die Körper isst, in Cannes gezeigt wird. Mal ehrlich, wie krank ist unsere Gesellschaft? Und wie pervers eine Filmindustrie, die so etwas noch auszeichnet? Der Film will ein Gesellschaftsportrait sein und davon handeln, wie wenig das Leben des Einzelnen wert sein mag - heutzutage müssen Perversitäten wie Kannabalismus herhalten, um eine übersättigte Filmindustrie und ein abgestumpftes Publikum aufhorchen zu lassen.