Winterschlaf (2014)

Eine Filmkritik von Patrick Holzapfel

Der Winter der Unzufriedenheit

Nuri Bilge Ceylan wagt viele neue Schritte in seinem neuen Werk Winterschlaf, das dieses Jahr in Cannes die Goldene Palme gewann. So lässt sich der normalerweise geduldige Student schweigender Gesichter nun auf lange und den Plot dominierende Dialoge ein. Außerdem finden die Geschehnisse zu großen Teilen in Innenräumen statt, was für den Türken ein absolutes Novum darstellt. Zuletzt bekommen auch die weiblichen Figuren zum ersten Mal im Schaffen von Ceylan mehr Raum. Der Film hält einen grausamen intellektuellen Spiegel vor all die Widerlichkeit des eigenen Wissens und die Prinzipien, die man im Laufe eines Lebens anlegt. Ein herausragender Film, der in einer ganz eigenen, fast vergessenen filmischen Liga operiert.

Man verbringt so viel Zeit damit zuzuhören oder die Untertitel zu lesen, dass man fast glauben könnte, dass sich vor einem gar kein Film, sondern ein Hörspiel oder eine literarische Vorlesung abspielt. Irgendwann aber bemerkt man die klaustrophobische Stimmung, die unter all dem liegt, die gefährliche Bequemlichkeit eines Winterschlafs, das familiäre Gefängnis und den Druck der vergangenen und gegenwärtigen Zeit. Und dann kommt Winterschlaf auch filmisch richtig in Fahrt. Und wenn man genau aufpasst, dann sieht man, dass das psychologische Drama im Film auch eine körperliche Dimension erreicht, die bis zu den Bartstoppeln in den digitalen Bildern spürbar wird.

196 Minuten verbringt der Film größtenteils in einem wunderschönen, in ein Felsmassiv gebauten, Hotel, das im Winter nur spärlich besucht wird. Der ehemalige Schauspieler Aydin (Haluk Bilginer), seine jüngere Frau Nihal (Melisa Sözen), Aydins Schwester Necla (Demet Akbag) und der Bedienstete Hydajet (Ayberg Pekcan) leben dort und sehen nach dem Rechten. Im Zentrum der Beobachtungen, die sich wie bereits erwähnt vor allem in langen Dialogen zwischen den Figuren entfalten, steht Aydin. Er ist einer jener einsamen Intellektuellen voller Zweifel, Arroganz und Selbsthass, die schon immer die Filme von Ceylan bevölkern. Der ehemalige Theaterdarsteller hat sich zurückgezogen und schreibt nachts an polemischen Zeitungsartikeln, während er das Verfassen eines Buchs über die Geschichte des türkischen Theaters aufschiebt. Er ist ein verbitterter Mann, der selbstherrlich agiert und in seiner Arroganz seine Umwelt ignoriert, obwohl er aus seiner eigenen Perspektive, die man nach und nach kennenlernt durchaus recht hat. Ein zynisches Monster, dem man nichts und doch alles vorwerfen kann.

Nach und nach lernen wir die Figuren kennen und mit ihnen die Konflikte. Aus den scheinbar alltäglichen Gesprächen und routinierten Bewegungen werden langsam schmerzvolle Beleidigungstiraden, die schonungslos die Schwächen nicht nur der individuellen Figuren sondern auch der patriarchalen Familiensituation an sich offenbaren. Die Selbstbelügung und Selbstrechtfertigung des Künstlers und Intellektuellen wird dabei genauso in ihre Einzelteile zerlegt wie die naiven Hoffnungen seiner Frau und die Gefühle der Schwester. Was Ceylan, der wie schon bei Drei Affen und Once Upon a Time in Anatolia zusammen mit seiner Frau Ebru Ceylan am Drehbuch schrieb, hier erreicht ist absolut bemerkenswert. So tötet er eine Figur alleine mit Worten. Der Abgang von Necla aus dem Film gehört zu einem der dramatischsten Filmmorde, die man gesehen hat. Dafür muss niemand sterben. Der Film folgt mehr einer von russischer Literatur beeinflussten moralisch-philosophischen Dramaturgie als einer Handlung im herkömmlichen Sinn. Die Nähe des Regisseurs zum Werk von Anton Tschechow ist nichts Neues. Schließlich waren schon in Once Upon a Time in Anatolia ganze Szenen aus Kurzgeschichten des russischen Meisters adaptiert. Der Unterschied ist, dass Ceylan sich zumindest auf den ersten Blick nicht mehr die Mühe gibt, diese Anleihen in eine genuin filmische Sprache zu übersetzen.

Aber Winterschlaf ist nicht lediglich ein Film mit vielen Dialogen sondern ein Film über Dialoge. Der Ekel davor, die Macht, die Routine, die Freude daran, seiner eigenen Logik zu folgen. Und auch ist der Film kein einfaches Kammerspiel, da er immer von der Relation der Figuren zur Kammer erzählt. Im Verlauf der Geschichte wird Aydin in einen Konflikt mit einer anderen, ärmeren Familie geraten. Der Junge wirft einen Stein auf den Wagen von Hydajet und fügt diesem einen Schaden zu. Wie in seinem Umgang mit den beiden Frauen geht Aydin mit einer Art ignorantem Druck auf den Zwischenfall zu. Er scheint völlig gerecht zu handeln und nett zu sein, aber irgendwo dazwischen liegt ein Stolz und ein psychologischer Druck, der kaum auszuhalten ist.

Eine solch subtile und reflektierende Figur sieht man selten. Jedes Wort, jede Geste, jedes kleine Augenzucken verändern die Tonalität der Figuren und des Films. Man muss einfach gebannt sein. Aydins Welt gerät ins Wanken, sein Besitz und seine Macht über andere Menschen verliert an Wirkung. Sinnbildlich dafür steht eine Episode mit einem wilden Pferd, das Aydin für sein Hotel fangen lässt. Hier entblößt Ceylan für einige Szenen die pure Kraft seiner kinematographischen Sprache. In Zeitlupe, wild schnaubend wird das Pferd in seiner vollen Pracht und voller Schmerzen gefangen. Es glänzt so weiß wie der Schnee. Die zarte Klaustrophobie der Bilder von Kameramann Gökhan Tiryaki verzaubert und erdrückt nicht nur in dieser Szene zugleich. In einer Nacht lässt Aydin das Pferd wieder frei. Ob dies eine Erkenntnis ist oder ob in dieser Erkenntnis schon wieder die nächste selbstgefällige, prinzipienhafte Geste steckt, bleibt unklar und beschreibt das Gefängnis, in dem sich die Figuren bewegen. Besonders zynisch wird es als Ceylan den Fokus auf Nihal legt, die wegen ihrer sozialen Ader oder aber aufgrund ihres schlechten Gewissens zum einen einige Sozialprojekte startet und zum anderen die Beziehung ihres Mannes zur Familie des Steine werfenden Jungen mit Geld wiederherstellen möchte. Hierbei geht es um die Wertlosigkeit von Geld und die verkrustete Seele männlichen Stolzes.

Bei einem Cannes-Gewinner stellt sich ja recht schnell die Frage, ob die Auszeichnung gerechtfertigt ist. Im Fall von Ceylan lässt sich auf keinen Fall das Gegenteil behaupten. Nachdem er für seine beiden Meisterwerke Uzak-Weit und Once Upon a Time in Anatolia jeweils mit dem Großen Preis der Jury und für Drei Affen mit dem Preis für die Beste Regie ausgezeichnet wurde, mag die Goldene Palme für manche ein wenig zu folgerichtig in den Händen von Ceylan landen, aber die Konsequenz und der Mut nach großen Fragen in Filmen zu forschen und damit die Geister von Filmemachern wie Ingmar Bergman, Andrei Tarkowski oder Michelangelo Antonioni immer wieder aufs Neue zu beschwören, stillt einen Hunger nach Größe, der im Zeitalter von Hipster-Schnittorgien und Musikvideos durchaus eine Ausnahmeposition einnimmt. Am ehesten mag man Winterschlaf wohl eine Nähe zu Ingmar Bergman attestieren. Die familiäre Isolation und allmähliche Zersetzung der Schwächen der Figuren, die in ihren Rollenbildern leiden und sich dem ständig bewusst sind, erinnert beispielsweise an Herbstsonate oder Szenen einer Ehe.

Dabei nimmt sich der Film lange nicht so ernst wie manch Zuseher befürchten könnte. Immer wieder lockert Ceylan das Geschehen mit absurdem Humor auf, sei es bei einer nächtlichen Sauforgie, mit oberflächlichen Begegnungen im Hotel oder gar mit Slapstick als Hydajet plötzlich auf dem glatten Boden am Bahnhof ausrutscht. Eine solche Szene ist auch Ausdruck der anhaltenden Faszination des Regisseurs mit dem Wetter und insbesondere dem Schnee. So fliegen immer wieder dicke, absolut greifbare Flocken durch das Bild und das Wetter ist in einer Beziehung mit den Figuren. Bei Ceylan erzählt die Witterung oft mehr über die Wahrheit als die Figuren selbst.

In seinem Film Jahreszeiten / Ikimler erhob er dieses System gar zum Titel, aber auch in Kasaba — Bedrängnis im Mai, Uzak-Weit und Drei Affen ist das Klima spürbar ein Teil der Welt oder gar die innere Welt der Protagonisten. Wenn man also von einem Winterschlaf ausgeht in den Figuren, dann bleibt am Ende — und der Film legt das durchaus nahe — tatsächlich eine Möglichkeit zur Besserung für Aydin. Zumindest gibt es wieder eine Tätigkeit, eine Handlung für ihn. Bis zum nächsten Winter of Discontent.
 

Winterschlaf (2014)

Nuri Bilge Ceylan wagt viele neue Schritte in seinem neuen Werk „Winterschlaf“, das dieses Jahr in Cannes die Goldene Palme gewann. So lässt sich der normalerweise geduldige Student schweigender Gesichter nun auf lange und den Plot dominierende Dialoge ein. Außerdem finden die Geschehnisse zu großen Teilen in Innenräumen statt, was für den türkischen Regisseur ein absolutes Novum darstellt.

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Meinungen

Yüksel Hayirli · 26.11.2014

Eine bemerkenswerte Film.
Ich würde behaupten es ist der beste Film von Ceylan.
Unbedingt Original sehen.
Atemberaubend. Faszinierende Dialoge.
Vor allem der Hauptdarsteller/rinnen Aydin (Haluk Bilginer) und Nihal (Melisa Sözen) sind Grandios. Aber ich bin nicht der gleiche Meinung wie der von vielen Kritikern.
Er ist weder Arrogant noch selbstherrlich.